So., 20.03.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Israel: Geflüchtet aus Russland
Der Flughafen Ben Gurion ist eine der wenigen internationalen Ziele, die überhaupt noch von Moskau aus erreichbar sind. Täglich ein Flug und unter den Passagieren viele junge, gut ausgebildete Menschen, die in Russland keine Zukunft für sich sehen. Wie zum Beispiel der Mathematiker Sergy und seine Schwester Veronika. Sie beantragen nun die israelische Staatsbürgerschaft und bauen sich ein neues Leben auf. Es ist vor allem die Mittelschicht, die wegen des Krieges und der Wirtschaft Russland den Rücken kehrt.
Vor allem die Mittelschicht verlässt Russland
Gerade ist die Maschine aus Moskau gelandet. An Bord: Russinnen und Russen, die ihre Heimat verlassen wollen oder müssen. Und es werden immer mehr. Israel ist eines der wenigen internationalen Ziele, wohin man aus Russland überhaupt noch fliegen kann. Unter den Passagieren: Alexander Scherbakow. Dabei hat er nur ein paar Koffer, Corgi Jiffs und Dokumente, die belegen sollen, dass er jüdische Wurzeln hat. "Ich bin eigentlich kein guter Jude, ich kenne die Kultur und die Sprache nicht, oder zumindest kaum, und das schon in dritter Generation nicht mehr. Also würde ich natürlich lieber in Moskau bleiben. Aber für mich ist das jetzt wie 1939." Damals überfielen die Nazis Polen. Was die nächsten Tage für Alexander bringen werden, weiß er noch nicht.
In diesem Ort außerhalb von Tel Aviv wird er unterkommen – im Haus von Verwandten seiner Frau Irina, wo wir auch noch weitere Ankömmlinge aus Russland treffen werden. Irina ist schon ein paar Tage vorher angekommen. Für Alexander ist alles noch ganz neu. "Zum ersten Mal aus einem hiesigen Laden" sagt Irina Scherbakowa. "Ich glaube, das war der erste Einkauf." Irina hat Moskau Hals über Kopf verlassen. Sie arbeitet für Memorial, die größte Menschenrechtsorganisation in Russland, der grade der Prozess gemacht wird. Sie hätte nicht gedacht, dass alles so schnell gehen würde. Hat er schon begriffen, dass er jetzt eine neue Heimat bekommt? "Nein, ich glaube, der glaubt, er ist im Urlaub." Irina zeigt ein Foto. "Das hat meine Schwester gemacht, das ist mit unseren Freunden vor einem Monat, in unserer Wohnung in Moskau, die letzte Feier." Hätten Sie sich das da denken können, dass Sie jetzt hier sind? "Auf keinen Fall. Ich habe zwei Tage vor der Abreise gesagt, ich geh nie weg." Sie wohnen nun vorrübergehend bei ihren Verwandten – so wie viele andere, die grade ankommen. Es sind vor allem Menschen aus der Mittelschicht, die ihre Heimat in Russland jetzt verlassen.
Ein Zimmer weiter. Auch Sergy und seine Schwester Veronika sind vor wenigen Tagen aus Moskau gelandet und wohnen jetzt hier. "Ich schreibe grade meinen Freunden, dass sie auch hierherkommen und nicht in Moskau bleiben sollen, weil ich mir Sorgen um sie mache", sagt Veronika Valkovskaya. Veronika arbeitet eigentlich mit behinderten Menschen, Sergy forscht an einem Moskauer Wirtschaftsinstitut. "Es ist hart, über die Zukunft zu sprechen", sagt Sergy Valkovskiy. "Weil es vor allem um unser Heimatland geht, das von schlechten Menschen regiert wird. Aber es ist grundsätzlich ein schönes und gutes Land. Und auf einmal sind wir nicht mehr dort, wo wir normalerweise leben. Was die Arbeit betrifft, ist es sicher besser hier, aber emotional? – wir wissen es nicht."
Bis zu 100.000 Einwanderer werden erwartet
Sergy ist zum ersten Mal in Israel. Nun wollen sie mithilfe einer Freundin die israelische Staatsbürgerschaft beantragen und probieren es heute beim Ministerium in Ashdod. Sie sind nicht die einzigen. Hier treffen die Nationen aufeinander, die in Europa gegeneinander kämpfen. Die israelische Regierung rechnet mit bis zu 100.000 jüdischen Einwanderern aus der Ukraine und Russland. Das System ist überlastet, sie sollen später wiederkommen. Also warten…. Irina und Alexander sind auch dazu gestoßen. Sergy hofft, dass es heute klappt. Es ist nicht der erste Anlauf, schon mehrmals hat man sie von einer Stelle zur nächsten geschickt. "Ausgehend von unseren Erfahrungen in den letzten zwei Tagen, kann so ziemlich alles schiefgehen", so Sergy Valkovskyi. "Aber immerhin haben sie unseren Termin bestätigt, also hoffen wir aufs Beste." Sie haben Dokumente mitgebracht, um den Behörden zu zeigen, dass sie jüdische Wurzeln haben. "Das sind die Geburtsurkunden von mir und meiner Schwester. Und das sind die von unseren Eltern und ihre Hochzeitsurkunde. Mein Vater und der Vater meiner Mutter sind jüdisch."
Zweiter Anlauf im Ministerium. Dieses Mal sind sie gleich an der Reihe. Der Ministerialbeamte überprüft die Dokumente. Laut israelischem Rückkehrrecht reicht für eine Staatsbürgerschaft ein jüdisches Großelternteil. Das Kriterium erfüllen sie. Und der Antrag ist durch. Ausführlich erklärt der Ministeriumsmitarbeiter ihnen, dass sie in wenigen Tagen ihre Ausweise bekommen. Erleichterung. "Das war erstaunlich angenehm, er war sehr freundlich. Und es geht jetzt wirklich schnell." Auch Alexander beantragt heute seine Staatsbürgerschaft in Israel. Für immer will er eigentlich nicht bleiben. Bis sie eine neue Unterkunft finden, werden sie alle hier wohnen. Aber sie betonen auch, dass die Aufnahme in Israel ein Privileg ist, das viele andere nicht haben.
Autorin: Sophie von der Tann, ARD-Studio Tel Aviv
Stand: 21.03.2022 10:32 Uhr
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