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Israel: Religiöse streiten um die Zukunft

Israel: Religiöse streiten um die Zukunft | Bild: BR / Bernd Niebrügge

Gedenkminute zu Ehren der gefallenen Soldaten in Beer Sheva. Wie hier ehren am 24. April landesweit tausende Israelis ihre Angehörigen, die durch Krieg oder Terror ihr Leben verloren haben. Doch ist dieses Jahr hier alles anders…

Vor der Gedenkstätte singen Reservisten und Angehörige der Toten ein landesweit berühmtes Kameradschaftslied. "Haut ab, ihr gehört hier nicht hin." – so reagieren wütend Anhänger der Regierung. Der Protest der Singenden gilt dem rechtsextremen Minister Ben Gvir, der die Gedenkstätte an diesem Tag besuchen will. Es kommt zum Handgemenge. Ein orthodoxer Rabbi gerät mit einem Reservisten aneinander.
Unbeirrt von dem Tumult hält Minister Gvir von der rechtsreligiösen Regierung seine Ansprache auf dem Soldatenfriedhof. Er gilt als maßgeblicher Unterstützer der so umstrittenen Justizreform.
Wir versuchen eine der Protestierenden zu interviewen. Es ist Reut, eine 42-jährige Ärztin. Doch schreien erregte Israelis die Frau nieder. Und wir müssen uns in Sicherheit bringen.

Spaltung der Gesellschaft

Später treffen wir Reut ungestört in ihrem Haus in Tel Aviv. Mit ihrem Ehemann Avi und den drei Kindern gehören sie zum liberalen modernen Mittelstand.
Reuts Großvater kam einst aus Europa, überlebte den Holocaust und machte sich mit der Staatsgründung Israels sesshaft. Nun fühlt aber sich die Familie von der Politik der nationalistisch-religiösen Regierung bedroht.

Familie Anconina bangt um ihre Freiheit, ihren Platz in der jüdischen Gesellschaft und um die Zukunft ihres Staates. Die geplante Justizreform …… das ärgert sie. Auch wolle sie keine verschärften religiösen Regeln im Alltag verordnet bekommen. Während ihre Familie arbeite, Steuern zahle und den Militärdienst leiste, gäbe es für Strengreligiöse immer wieder Ausnahmen. Reut Anconina: "Ich glaube nicht, dass ich hier noch leben kann, wenn keine Demokratie mehr da wäre, also eine, wie ich sie bevorzuge. Es wäre sehr hart, wenn es nicht mehr so ist. Aber die Demokratie muss auch jüdisch sein, wegen der Geschichte, gerade wegen der aktuellen Geschichte."

Hoffnung bei den Haredim

!Die Menschen, die Menschen – sie alle wollen die Justizreform." Mit dieser Parole demonstrieren in Jerusalem hunderttausende Israeli für die Justizreform der israelischen Regierung. Sie wollen die Macht des höchsten Gerichts einschränken – zugunsten der regierenden nationalistisch-religiösen Regierung. Und sie hoffen, so ihre nationalistische wie auch streng gläubige Vorstellung von einem jüdischen Staat umsetzen zu können.

Hier treffen wir den ultra-orthodoxen Juden Benjamin Volken. Er und seine Glaubensbrüder gehören zur Gruppe der Haredim. Er lädt uns später ein zu sich nach Hause. Benjamin lebt mit Frau und vier Kindern im religiösen Viertel Bnei Brak bei Tel Aviv. Es ist eine eher kleine Familie, denn im Durchschnitt bekommen Haredims sechs oder mehr Kinder. Im Gegensatz zu den meisten Glaubensbrüdern geht Benjamin einer Arbeit nach und gibt sich nicht mit den finanziellen Zuschüssen von Staat und mit Spenden allein zufrieden. Er schaut positiv in die Zukunft: "Heute gibt es viel mehr Studien und Hochschulen für das biblische Wort, also Thora und Jeshiva, und mehr Haredi-Juden im Staat von Israel. Und die Haredi-Bevölkerung wächst gottseidank schnell. Die Geburtenrate im Haredi-Sektor ist eine der höchsten im Staat – Gottseidank."

Ärztin Reut hat sich derweil aufgemacht zu demonstrieren – jede Woche hier im Zentrum von Tel Aviv gemeinsam mit Hunderttausenden Israelis zusammen: "Nein zur Justizreform, Nein zu einem nationalistisch-streng religiösen Staat, Ja zu einem modernen jüdischen Staat…..": "Ich habe mich entschieden, mit dem Schweigen aufzuhören. Wie schon bei der Gedenkstätte in Beer Sheva, wo wir nicht geschwiegen haben. Ich bin in dieses Land gekommen, ich lebe hier, es ist meine Heimat. Also muss ich darum kämpfen, dass sie so aussieht, wie ich es möchte."

Wir tun es auch für unsere Töchter, sagt uns Reut zum Abschied. Sie sollen hier einen Ort haben, wo sie sicher aufwachsen können – so wie wir es auch konnten.

Autor: Bernd Niebrügge, ARD Tel Aviv

Stand: 14.05.2023 23:25 Uhr

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