So., 10.11.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Japan: Die Schule der Avatare
Der Schulweg des 16-jährigen Shunzen: der Weg in einen virtuellen Raum – Eintauchen in eine künstliche Welt. Hier steht das Klassenzimmer seiner Träume. Es hat gerade erst geöffnet. Avatare sitzen an Tischen. Menschen begegnen sich als digitale Avatare.
Schüler Shunzen Maeda: "Hier kann ich mit Schülern aus dem ganzen Land in eine Klasse gehen. Das ist unser erstes gemeinsames Schuljahr. Gewissermaßen ein Experiment."
Die Jugend Japans zählt zu den unglücklichsten der Welt. Gruppendruck und Drill bestimmen das Bildungssystem. Nicht aus der Reihe tanzen, so die Lektion. Wer das nicht aushält – und es sind viele – der sucht die Tür in eine andere Welt. Die Yushi International Highschool, eine private Fernschule, kooperiert mit Spezialisten für Virtuelle Realität. Das Ziel: Schulunterricht in computergenerierten Räumen.
Ausweg aus der Realität?
Uruyasu bei Tokio, eine Retortenstadt nach amerikanischem Vorbild. Der Wohnort des Schülers Shunzen. Genug Grünflächen und Freizeitangebote, Disneyland liegt auch in der Nähe. Doch nicht jeder fühlt sich in der Vorstadt wohl. Und manchem fällt hier die Decke auf den Kopf wie dem Schüler Shunzen: Er baut sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Es ist auch ein Ausweg aus der Umgebung, die ihn einschränkt und manchmal auch verletzt hat: "Ich trage die VR-Brille manchmal sogar im Schlaf. Das hört sich jetzt vielleicht merkwürdig an. Aber es ist so ein Gefühl, wie bei Klassenfahrten. Wenn man noch bis spät in die Nacht mit den Freunden plaudert, irgendwann einschläft, und dann am nächsten Morgen beim Aufwachen gleich weiterspricht."
Bei Shunzen zu Hause sind die Diskussionen mit den Eltern ausgestanden. Er galt immer als begabtes Kind. Aber in herkömmlichen Schulen fand er sich nicht zurecht: Ausgegrenzt, unverstanden und gemobbt. Er ging irgendwann nicht mehr hin. Die neue Schule fand er selbst. Für die Eltern gewöhnungsbedürftig. Ihre Bedenken stellen sie vorerst zurück.
In Japan kennt man schon lange Fälle von Jugendlichen, die ihr Zimmer gar nicht mehr verlassen wollen. Wissenschaftler untersuchen, ob die virtuelle Realität die Flucht vor der Welt begünstigt.
Die Vision einer besseren Schule hat Shunzens Eifer entfacht. Er will nicht nur einfach lernen. Er will mitbauen an einer Zukunft, in der Jugendliche ihren Lebensweg frei bestimmen und sich nach eigenen Vorstellungen entwickeln können. Sein neues Ich baut er selbst, inspiriert von der japanischen Anime-Kultur und ihren vielen weiblichen Charakteren. In seiner neuen Gestalt hält er die Schülerrede bei der Eröffnungsfeier der virtuellen Schule.
Autor: Ulrich Mendgen, ARD Tokyo
Stand: 10.11.2024 20:13 Uhr
Kommentare