So., 15.09.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Kasachstan: Olympiade der Nomaden
Vor dreißig Jahren war hier nichts. Jetzt steht mitten in der Steppe eine Stadt. Astana, Kasachstans Hauptstadt, aus dem Boden gestampft – und längst Millionenstadt. Eingekeilt zwischen China und Russland liegt das Land – und schafft es dabei, die Balance auch zum Westen zu halten. "Man sucht sich seine Nachbarn nicht aus, wir müssen mit ihnen auskommen, so sehr wir den Westen schätzen. Wir müssen mit allen Frieden wahren." "Kasachstan soll nach Westen und nach Osten schauen. Und dabei seine Identität nicht vergessen. Wir sind ein Turkvolk, wir schätzen unsere Traditionen." Mitten im futuristischen Zentrum erinnern Jurten daran, das Kasachstan Nomadenland war. Jetzt ist es eine Woche lang Gastgeber für die Weltspiele der Nomadenvölker. Trainiert wird bis auf die letzte Minute. Voller Galopp – und dann noch Ziele treffen. Möglichst schnell, möglichst viele. Jambo Atu heißt der Sport, Team Kasachstan ist Favorit.
Auch die Architektin Azhar trainiert ein letztes Mal. 60 Meter – Treffer. Bogenschießen ohne moderne olympische Bogen, ohne Visier und anderen Schnickschnack. So wie die Vorfahren. "Wir haben das einfach im Blut, scheint mir. Anders kannst du das nicht erklären. Als Wettkampfsport gibt es das bei uns noch nicht so lange – aber wir gehören schon zu den Favoriten", sagt sie. Ringkampf hoch zu Ross. Auch so eine uralte Sportart Zentralasiens. Der schwarze Hengst heißt wie das Gebirge, aus dem er kommt: Karatau. Sein Reiter ist Syrym. 13-facher kasachischer Meister, Asien-Meister, Weltmeister – der Stolz seines Trainers. Und nicht nur des Trainers: Syrym kommt aus einem kleinen Dorf, weit weg im Süden des Landes. "Hinter allen unseren Sportlern steht das ganze Volk, aber jeder hat auch seine Familie, seine Region, die ihm die Daumen drücken." "Ich hab vier Kinder", sagt Syrym, "drei Mädchen, ein Junge. Meine Eltern, zwei Schwestern, einen Bruder. Und natürlich meine Frau. Die werden mich zuhause anfeuern – ich hab extra einen großen Fernseher gekauft."
Zwanzig Autostunden weiter südlich, kurz vor der Grenze zu Usbekistan. Von hier kommen fast alle Reiter des Nationalteams. Der Süden Kasachstans ist Pferdeland. Das Heimatdorf von Syrym ist nicht zu übersehen – gleich am Eingang steht sein Plakat. Alle sind zuhause. Der neue Fernseher hängt, die Familie ist bereit. Noch haben die Spiele nicht begonnen – sie schauen sich alte Wettkämpfe an. Jeden einzelnen von Syryms Kämpfen haben sie hier verfolgt. Morgen beginnen die Nomadenspiele. "Ein bisschen aufgeregt bin ich", sagt der Vater, "und stolz. Manchmal kommen mir sogar die Tränen, ich kann nicht anders." "Ich hab ihn selbst ja als Lehrerin in der Schule unterrichtet. Er mochte Pferde schon immer. In der ersten Fibel gab es Pferdebilder, die hat er immer mit den echten Pferden verglichen." Syrym trainiert den Nachwuchs. Und er hat schon alles gewonnen in seinem Sport, was es zu gewinnen gibt. Sogar eine Reise nach Mekka. Die Pilgerfahrt hat er der Mutter geschenkt, stolz zeigt sie das Zertifikat. Der Familie hat Syrym ein modernes Haus gebaut von den Preisgeldern. Das steht jetzt mitten auf dem alten Grundstück mit den Pferden. Das schönste Haus im Dorf.
Kasachstan als Gastgeber aller Nationen
Eine Eröffnungsfeier wie bei Olympia. Fast neunzig Nationen sind bei den Nomadenspielen, ganz Zentralasien ist da. Und die halbe Welt. Russland darf mitmachen – und schickt eine der größten Delegationen. So viele Gelegenheiten hat das Land ja nicht mehr. Für die Gastgeber sind die Spiele die Chance, sich der Welt vorzustellen – als Land mit eigener Identität. Dazu gehört auch der wohl seltsamste – und härteste – Sport Zentralasiens. Zwei Reiterteams streiten sich um eine Gummiziege. Die muss ins runde Tor.
13 zu null für Kasachstan – gegen ein Team aus Texas, das irgendwie den Weg nach Astana gefunden hat. Aber – chancenlos. Erster Wettkampftag auch beim Bogenschiessen. Zuerst die Männer. Mit dem Begriff Nomaden nimmt man es nicht so genau – jeder kann mitmachen. Bedingung: Man muss ein nationales Kostüm tragen und die Qualifizierung bestanden haben. Auch Azhar, die Architektin, bereitet sich vor – ihr erstes großes internationales Turnier. "Meine Oma ist hier, die Eltern, meine liebste Schwester – das hilft", sagt sie. "Kein Auge hab ich zugetan", sagt Azhars Mutter, "so viele Gäste aus aller Welt, hoffentlich ist unser Volk ein guter Gastgeber. Und unsere Tochter ist dabei!" Russland sei willkommen, sagt der Vater – aber: nur als Gast. "Dreihundert Jahre waren wir nicht frei, waren unter russischer Herrschaft. Jetzt sind wir als Nation gleich mit allen anderen. Kein Volk steht über dem anderen, nicht Russland, nicht Kasachstan."
Drei Minuten Zeit, neun Pfeile. Die Frauen sind dran. Azhar ist nervös. Sie wird in keinem der Einzelwettbewerbe in die Endrunde kommen. Beim Mannschaftsturnier aber holt Kasachstan am Ende Silber. Für ihren ersten großen Wettkampf, sagt Azhar, sei das super. Beim Ringen hat es Syrym ins Finale geschafft. Aber vorher sind noch die Leichtgewichte dran. Ein Kasache gegen einen Kirgisen. Wer den Gegner vom Pferd wirft, gewinnt. Bleiben beide oben, gibt es Punktwertung. Und die ist oft umstritten. Er will nicht glauben, dass er verloren haben soll. Auch die Trainer streiten sich. Also – Videobeweis. Aber auch der hilft nicht weiter.
Am Ende siegt die Gastfreundschaft – man schenkt den Sieg dem Kämpfer aus Kirgistan. Syryms Finalgegner ist ein Mongole. Syrym macht kurzen Prozess. Nach wenigen Sekunden zieht er den Gegner einfach mit sich zu Boden. Goldmedaille für Kasachstan. "Zuhause wissen sie noch nichts", sagt er, "ich hab noch nicht angerufen." Aber sie werden es wohl gesehen haben. Er hat ja extra den neuen Fernseher gekauft.
Autorin: Ina Ruck / ARD Moskau
Stand: 15.09.2024 20:58 Uhr
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