So., 22.05.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Kenia/Somalia: Millionen Kindern droht Hungertod
Trockenheit und Dürre gibt es im äußersten Norden Kenias immer wieder. Doch seit Jahren werden die Dürreperioden häufiger und der Niederschlag geringer, weiß James Ayolo. Er ist auf dem Weg in ein Dorf des Daasanach-Stammes. "In diesem Jahr ist die Lage schlimmer als sonst, weil wir in dieser Zeit eine besonders lange Dürreperiode hatten und die Gemeinschaft ihre Herden verloren hat, die ihre Lebensgrundlage ist."
Die Dürre hat ihnen alles genommen
James besucht die Familie von Achao, sie sind besonders schlimm betroffen: Mit der Dürre kam der Hunger. Ihre Tochter hat das nicht überlebt. "Das Kind war noch sehr jung. Wir fragen uns, was schief gelaufen ist. Wir haben unsere Tochter ins Krankenhaus gebracht und es hieß, sie sei unterernährt. Wir hatten zwar eine Aufbaunahrung bekommen, doch abends um acht Uhr war sie tot. Die Trockenheit war extrem. Ich hatte keine Milch, um sie zu stillen. Ich habe sie durch die Unterernährung verloren", erzählt Mutter Nagerte Kamate.
Leben mit der Trauer – und mit der Ungewissheit, wie es für die Familie weitergehen soll. "Seit die Trockenheit begann, habe ich meine Herde, meine Lebensgrundlage und dann mein Kind verloren – in dieser Reihenfolge. Es war schwer für mich. Ich habe mir Fragen gestellt: Ich habe alles verloren. Was bedeutet das? Werden nun alle meine Kinder leiden? Diese Gedanken liegen schwer auf meinem Herzen", sagt Familienvater Kute Gibril Achao.
Wie wird Achao für seine Familie in Zukunft sorgen können? Noch treibt ihn sein Blick zurück, der Verlust seines Kindes, seiner Herde, die einmal aus hundertfünfzig Kühen und zweihundert Ziegen bestanden hat: "Als unsere Herden durch die Trockenheit verendet sind, wies uns die Regierung an, sie aufzuschichten und zu verbrennen, damit sich keine Krankheiten ausbreiten."
Notsituation in vielen Familien
Allein in Kenia sollen über drei Millionen Menschen inzwischen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein. Wo Hunger herrscht , trifft es die Kinder oft besonders hart. Sie sind unterernährt und ihre Familien haben durch die fehlenden Einnahmen kein Geld, um sie zur Schule zu schicken. Hunderttausende Kinder haben wegen der Trockenheit am Horn von Afrika keine Chance auf Bildung, sagt das UN-Kinderhilfswerk UNICEF.
Das Horn von Afrika als Krisenregion – neben Kenia sind vor allem Äthiopien und Somalia von der schlimmsten Dürre seit 40 Jahren betroffen. Sechs Millionen Menschen sollen in Somalia nicht mehr genug zu essen haben. Viele werden zu Binnenflüchtlingen, fliehen in ihrem eigenen Land von Region zu Region. Ganze Siedlungen von Hungerflüchtlingen sind inzwischen hier, rund um die Stadt Dolow, aus dem Boden geschossen: Zwei gab es schon, jetzt sind es fünf.
Tee kochen vor der Notunterkunft. Mehr als 300 Kilometer hat Nurto bis ins Qansahley-Camp zurückgelegt, um sich und ihr Kind vor dem Tod zu retten. Vergeblich. "Mein Kind war krank als wir hier ankamen. Sie hatte hohes Fieber und Durchfall. Ich habe sie in ein Krankenhaus gebracht. Sie ist dort gestorben. Heute Morgen haben wir sie beerdigt." Nurto ist 20 Jahre alt, war früh verheiratet worden. Auch dazu trägt die Dürre bei, die Zahl der Mädchen, die jung verheiratet werden, habe dramatisch zugenommen, so UNICEF. Das Heiratsalter sinke, denn dadurch steige die Mitgift – wichtig für Eltern, die alles verloren haben. Es geht ihnen aber auch darum, für ihre Mädchen eine Familie finden, die deren Zukunft sichern kann.
Unterdessen werden im Krankenhaus von Dolow Tag für Tag mehr unterernährte Kinder eingeliefert. Ärzt:innen und Pflegekräfte wie Abdikarin Moallim haben alle Hände voll zu tun. "In diesem Monat haben wir schon mehr als 40 Kinder aufgenommen. Viele Krankheiten wie Masern, Durchfall und Fieber verbreiten sich in den Flüchlingscamps. Und die Zahl der unterernährten Kinder steigt", sagt der leitende Pfleger.
Eine ganze Region im Katastrophen-Modus. Hauptleidtragende sind die Kinder. Wie in Somalia, so auch in Äthiopien und Kenia. Dort besucht James andere betroffene Familien, untersucht Kinder auf Unterernährung. Immer dabei: sein Maßband. Denn das entscheidet darüber, ob eine spezielle Aufbaunahrung verabreicht wird: Plumpy Nut, eine energiereiche Paste aus Erdnussbutter, Milchpulver, Öl und Zucker. "Dieses Mädchen ist schwer unterernährt. Deshalb kommt sie gleich in unser Ernährungsprogramm. Wir geben ihr Plumpy Nut", sagt James.
Doch der Plumpy Nut Nachschub kommt zögerlich. Die Organisationen ringen um Geld – und die kenianische Politik mit den anstehenden Wahlen: "Die Politiker sind mit dem Wahlkampf beschäftigt und haben diese Leute hier völlig vergessen. Es gibt keine Unterstützung. Und dann auch noch die große Entfernung von unserem zentralen Marktplatz in der Stadt Marsabit: Die Straßen sind jetzt kaum passierbar. An Nahrungsmittel zu kommen, wird schwierig und teuer."
Denn der nun einsetzende Regen lässt die Menschen zwar hoffen, schafft aber erstmal ein Transportproblem. Am Ende dieser Regensaison wird einmal mehr die Frage stehen, ob der Niederschlag ausreicht. Meteorologen bezweifeln das schon jetzt. Am Horn von Afrika kann die Hungersnot zur Dauerkrise werden.
Autor: Norbert Hahn/ARD Studio Nairobi
Stand: 22.05.2022 20:45 Uhr
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