So., 29.05.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Kolumbien: Brüchiger Frieden vor der Präsidentschaftswahl
„Der Frieden ist immer besser als Krieg. Nur ein verrückter Mensch hat mehr Interesse am Krieg als am Frieden.“ Das sagt Frellin Alberto Noreña. Beim ehemaligen Guerilla-Kämpfer der FARC schwingt immer noch die Hoffnung von damals mit, als er seine Waffen abgab. Ein langverhandeltes Friedensabkommen zwischen Regierung und der Guerilla-Armee beendete vor sechs Jahren einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg.
Am Sonntag wird in Kolumbien ein neuer Präsident gewählt. Dabei steht auch der Friedensprozess mit zur Wahl. Denn auch wenn es für Frellin Alberto Noreña kein Zurück mehr gibt, andere Ex-Kämpfer haben sich wieder bewaffnet. Banden und Drogenkartelle und die Regierungsarmee – vom Frieden ist Kolumbien weit entfernt.
Die Konfliktursachen bestehen immer noch
Wenn die Strömung anzieht, vergisst Pato alle Probleme. Und wird eins mit Boot und Paddel – wie früher. Als FARC-Kämpfer war er auf diesem Fluss unterwegs, im Kampf gegen das Militär. Pato – übersetzt Ente – war sein Deckname. Weil er jeden Stein, jede Untiefe kennt. Heute lotst Pato Touristen durchs frühere Kriegsgebiet. Ein Projekt zur Wiedereingliederung. "Wir haben immer gesagt, wir haben die Waffen niedergelegt, und stattdessen zum Ruder gegriffen", sagt Frellin Alberto Noreña, genannt "Pato". "Das ist eines der besten Beispiele für den Frieden. Der Frieden ist immer besser als Krieg. Nur ein verrückter Mensch hat mehr Interesse am Krieg als am Frieden."
Die Schönheit ist atemberaubend, doch die Region Caqueta galt als rote Zone. Geschichtstunde auf dem Wasser: Pato erzählt, wie hier ehemalige Bauern als linke FARC-Guerilla gegen Militär und Paramilitärs kämpften. Seit die Guerilla vor fünf Jahren die Waffen niederlegte, können Touristen kommen. "Hier zu sein, mit Menschen zu sprechen, die diese Geschichte gelebt haben, Zeugen sind, das ist unglaublich", so Tourist Laurie Blair. Das Rafting-Projekt ist eine kleine Erfolgsgeschichte, zwischen vielen Problemen. Mit den Bauern fiel die Versöhnung zwar leicht, sagt Pato, weil die FARC für ihre Interessen kämpfte. Doch für andere bleibe er "der Terrorist". Pato saß im Gefängnis, weil er eine Bombe legen wollte. Versöhnung – mit jemand wie ihm – lehnen viele ab. Während er für den Frieden rudere, torpediere sogar der bisherige Präsident den Friedensvertrag. "Was auf dem Papier vereinbart wurde, klingt gut, aber die Umsetzung funktioniert nicht. Die Regierung packt die Gründe des Konflikts nicht an der Wurzel. Es fehlen Investitionen auf dem Land, in Bildung. Die Ursachen, die zum Konflikt geführt haben, existieren noch."
Zunahme der Gewalt
Auch die Gewalt eskaliert wieder. Die Siedlung der Ex-FARC liegt idyllisch, aber wird streng von Militär bewacht. Das Umland ist unsicher, andere bewaffnete Gruppen haben sich breit gemacht. Drogenbanden führen Krieg gegen Paramilitärs und andere Guerillas. Und sie rächen sich an den Ex-FARC, die nun verletzlich sind. Yorlenys Mann ist einer von hunderten, der sich deshalb wiederbewaffnet hat. 300 Ex-FARC wurden bereits ermordet. Ein Beispiel dafür, dass der Friedensprozess auf wackligen Füßen steht. "Ich schaue meinen Sohn an und es macht mich traurig", sagt Yorleny Casas Castillo. "Ich dachte, der Friedensprozess bringt etwas Gutes, zumindest eine intakte Familie."
Mehr als 50 Jahre Bürgerkrieg haben das Land geprägt – und viel friedlicher ist es nicht, weil die Machtstrukturen verworrener sind als zuvor. Und die Gewalt unberechenbarer. Die Opfer der neuen Konflikte suchen oft Hilfe bei ihr: Luz Dary Garzon. Die Bürgerrechtlerin begleitet auch heute Geflüchtete zu Behörden in der Provinzhauptstadt. Bewaffnete Männer haben die Bauern von ihren Höfen vertrieben, jetzt brauchen sie eine Unterkunft. Fälle, die im Caqueta traurige Routine sind. "Nein, dieses Land ist nicht friedlich, wir haben sowas jeden Tag, die Vertreibungen geschehen täglich." Oft geht es um Land für Drogen-Routen, Koka-Plantagen. Wer diesmal dahinter steckt ist Spekulation: Paramilitärs, das Militär selbst – oder ehemalige FARC? Die Bauern wissen es nicht – nur, dass sie alles verloren haben. "Da kamen Leute, schwarz gekleidet mit vermummten Gesichtern" erzählt eine Frau. "Sie sagten, wir 24 hätten Stunden, um zu verschwinden." Und ein Mann meint: "Nach dem Friedensvertrag sind andere Gruppen gekommen, die ganze Familien vertreiben."
Gibt es eine Chance für den Friedensprozess?
Und auch Luz lebt gefährlich, weil sie die Untätigkeit des Staates kritisiert. 171 Aktivisten wurden vergangenes Jahr ermordet, mehr als 70 in diesem. Sie hofft auf Wandel – aber die Frage, wer der nächste Präsident sein soll, macht sie nervös. "Solchen Fragen zu beantworten, kostet", sagt die Menschenrechtsaktivistin Luz Dary Garzon Muñoz. "Das kostet uns das Leben. Offen zu sagen, dass der Präsident, den wir haben, unsere Rechte nicht garantiert. Es passiert nichts, und wir? Wir leben hier den gleichen Konflikt, die gleichen Nöte, es gibt keine Wiederherstellung der Menschenrechte."
Gibt es Chancen auf einen Neuanfang? Pato, der Ex-Guerillero, hofft, dass der künftige Präsident den Friedensprozess ernst nimmt. Dass er die soziale Ungleichheit, die Armut bekämpft. Für ihn geht es wieder aufs Boot. Er fühle sich frei beim Rafting mit den Touristen. "Du vergisst dabei den Rest der Welt. Du vergisst Probleme mit Bankkonten, mit Handys, alles." Zur Waffe greifen will Pato nicht noch mal, sondern beim Ruder bleiben – schließlich habe er sich dem Frieden verpflichtet.
Autorin: Marie-Kristin Boese, ARD-Studio Mexiko
Stand: 30.05.2022 09:57 Uhr
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