So., 20.10.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Kolumbien: Haute Couture im Slum
Diamantina Arcoiris ist Mode-Designerin und sie beschäftigt häufig eine bunt schillernde Truppe, die die hochwertigen Stoffe ihrer Design-Kleider besticken: Obdachlose, Prostituierte und Junkies. Das Atelier der Künstlerin liegt in einem der elendsten Stadtviertel der kolumbianischen Hauptstadt Bogota. Dort, wo sich wegen der offenen Drogenszene und der alltäglichen Gewalt kaum ein Kunde hin traut.
Genau dort finden aber auch die Modeschauen statt. Der ganze Slum ein Laufsteg. "Wenn Obdachlose an Modeschauen laufen können, schick frisiert, professionell geschminkt und ordentlich gekleidet, stärkt das ihr Selbstbewusstsein", glaubt die Designerin und verkauft ihre Mode sehr erfolgreich – vor allem online.
Mode machen mit Menschen von der Straße
Vollgepumpt mit Drogen – und am Sticken. Prostitution, Crack, Dreck und Diamantinas Idee: Mode machen mit Menschen von der Straße. Ich will mir einen Eindruck machen, was will Diamantina erreichen? Eine Modenschau steht an: noch vier Tage. Früh aufzustehen ist nicht die Sache von Diamantina Arcoiris, das macht sie für uns, denn Zeit mit ihr allein zu bekommen ist fast unmöglich. "Immer klingelt irgendwer an der Tür. Ich liebe den Frieden, also das Gegenteil von Chaos, aber Ordnung geht nur solange sie die Improvisation nicht bremst."
Regenbogen Diamat, heißt ihr Name übersetzt. Den hat sie sich selbst gegeben. Der gewaltsame Tod ihres Bruders löste bei ihr eine "innere Revolution" aus erzählt sie. "Ich hatte ein schönes Haus im reichen Norden, meinen Mann, meine Kinder alles perfekt. Wenn du aber tiefe Gefühle erreichen willst, musst du Dich um andere kümmern, anders geht es nicht."
Wie sie das macht? Diamantina bietet ihr Talent, Modedesign, und daran können jetzt Diebe, Obdachlose, Drogensüchtige mitarbeiten. Das könnte doch etwas anstoßen. "In ihrem Kopf herrscht Chaos. Da gibt es kein Zeitgefühl, kein Anfang und kein Ende. Und da beginnt ein Prozess. Kontinuität, Mühe, Zeit, Geduld."
Prostituierte, Drogensüchtige, Obdachlose als Models
Ihre Models und Mitarbeiter findet Diamantina direkt vor der Haustür. Ihre neue Nachbarschaft ist eines der kriminellsten Viertel der Hauptstadt: Santa Fé. Crack, Alkohol und viel Klebstoff liegen in der Luft. Die billigste Art sich zu berauschen. Berührungsängste gibt es nicht. Die Prostituierte Francesca soll die Modeschau eröffnen. "Ich bin nervös, aber ich gehe es an."
Mit 10 Jahren hat Edwin das Leben auf der Straße gewählt, weil er seinen Stiefvater nicht ertrug. Auf der Straße sei er frei. Der 21-jährige schlägt sich mit Gelegenheitsarbeit durch. 50 Cent hier und da, um Einkäufe anderer zu tragen. Edwin ist aufgeweckt man könnte sich gut ein anderes Leben für ihn vorstellen. "Man macht einiges mit, aber Kindern in Afrika geht es doch schlechter, oder?"
Die Straße sei ok. Doch es gibt da was Neues in seinem Leben. In der Nacht, wenn sich alle Türen schließen öffnet Diamantina die ihren. Für alle. Egal wie high. Christian will direkt mal sein Messer zücken. "Nein, nein, lass das stecken Bruder. Was soll das? Entspann dich, setz Dich. Lass mich das regeln." Es gibt für jeden liebe Worte und ein Angebot an alle: Nadel und Faden.
Und plötzlich wird es im ganzen Trubel ruhiger. Auch Edwin ist gekommen. "Das hier ist wie ein zu Hause, es gibt keinen Stress." Sticken, Mode machen bietet eine Ruhepause und es können neue Ideen entstehen für ein anderes Leben – muss aber nicht. "Edwin, willst du bei der Modenschau mitmachen?", fragt Diamantina. "Lass mich nicht im Stich. Wann musst du kommen?" "Um 7", "Morgens oder Abends?" "Abends." Ob Edwin sich das merken kann weiß niemand. Wer weiß schon was morgen kommt.
Der große Tag: die Modenschau
Und dann werden aus Tagen nur noch wenige Stunden. Heute ist die Modeschau. Und jetzt packt jeder mit an. Sie sind keine Verpflichtung gewöhnt, aber einer nach dem anderen kommt, der heute auf den Laufsteg soll. Die Aufregung steigt – wenn auch nicht für jeden. Aber Edwin ist gekommen. Noch eine Stunde bis zur Schau. Eine Verwandlung findet statt. Die Verachteten werfen einen anderen Blick auf sich selbst. "Ich fühle mich schön. Du lässt mich schön fühlen", meint Edwin.
Erlebnisse wie diese können verändern, Dailin haben sie von der Prostitution weggebracht. Arbeitet jetzt als Friseurin. Dann ist es soweit. "Dieses Event ist für uns", sagt Diamantina. "Ob die Leute kommen oder nicht, ob wir verkaufen oder nicht ist zweitrangig. Lasst uns genießen. Ich liebe euch."
Die Show ist eröffnet. Wird ein Kleidungsstück verkauft – werden sie alle hier für ihre Mitarbeit ausgezahlt. Diamantinas Projekt bringt: Freude, Gemeinschaft, auch Stolz auf das selbst Erschaffene, Anerkennung. Und wenn sie es denn wollen, vielleicht eine Alternative.
Autorin: Xenia Böttcher (ARD-Studio Mexiko)
Stand: 21.10.2019 10:51 Uhr
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