So., 13.09.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Libanon: Drusen auf der Flucht
Es ist eine wilde Fahrt durchs Schuf-Gebirge, 40 Kilometer südöstlich von Beirut: Drusengebiet. Schon vor Jahrhunderten hat sich die religiöse Minderheit in besonders schwer zugängliche Regionen zurückgezogen. Wir fahren in alten Geländewagen vom Städtchen Barouk hinunter zum Awali-Fluss. Die Autos sind vollgestopft mit Lebensmitteln. Wir sind auf dem Weg zu syrischen Flüchtlingen, mehr als eine Stunde entfernt von der nächsten Siedlung.
Hilfe für die Flüchtlinge
Rana al Dahouk ist selbst vor zwei Jahren aus Syrien geflohen. Jetzt organisiert sie für die Kindernothilfe die Verteilung von Reis, Öl und Windeln an die Familien. Manche sind als Flüchtlinge registriert, andere leben illegal hier. Sie haben mitgebracht, was sie bei ihrer Flucht aus Syrien ins Auto packen konnten: Ehemalige Ingenieure, Anwälte, Facharbeiter. Jetzt arbeiten sie als Tagelöhner auf den Feldern der libanesischen Grundbesitzer, für zehn Dollar am Tag.
Familie Abbas wohnt mit ihren sieben Kindern unter Plastikplanen. Im Sommer ist die Hitze fast unerträglich, im Winter herrscht schneidende Kälte. Rana al Dahouk beschreibt den Alltag der Flüchtlinge: "Sie arbeiten von sechs Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Sie können kein sauberes Wasser bekommen oder irgendetwas, um anständig zu leben. Sie haben nur diesen Unterstand mitten im Tal und was sie verdienen, reicht kaum fürs Essen."
Ein Drittel Flüchtlinge
Zwei Millionen Flüchtlinge leben im Libanon. Sie machen inzwischen ein Drittel der Bevölkerung aus. Zentrale Lager gibt es nicht. Alle müssen irgendwo Unterschlupf suchen, in den Städten oder auf dem Land wie hier im Schuf-Gebirge, leben im Schmutz, haben keine Chance, ihre Kinder zur Schule zu schicken.
"Bevor wir herkamen", erzählt Shenna Abbas, "sind wir in Syrien von Dorf zu Dorf geflohen. Aber überall wurden wir vom Krieg eingeholt. Zuletzt kam die beste Freundin meiner Tochter bei einem Bombenangriff ums Leben. Für mich war es, als sei meine eigene Tochter gestorben. Darauf sind wir in den Libanon geflohen. Ich leide hier sehr, vertrage die Sonne nicht. Aber trotzdem bin ich froh, denn hier bin ich mit meinen Kindern in Sicherheit."
"Ein paar Jahre opfern"
Rana ist Drusin, sie war erfolgreiche Geschäftsfrau, arbeitete für große Firmen in den arabischen Emiraten: "Ich kann mehr für die syrischen Flüchtlinge tun; das habe ich gemerkt, als ich mit der syrischen Krise konfrontiert wurde. Ich will jetzt ein paar Jahre meines Lebens opfern, um diesen schutzlosen Menschen zu dienen; Menschen, die wirklich Hilfe brauchen."
Für Rana spielt es keine Rolle, ob die Menschen, denen sie hilft, Drusen sind, Muslime oder Christen. Solidarität mit allen Menschen ist Bestandteil ihrer Religion. Wir fahren mit ihr zurück nach Barouk, einem Zentrum drusischen Glaubens.
Die schwarze Tracht mit weißer Kopfbedeckung dürfen nur die Uqqal, die Eingeweihten unter den Drusen tragen. Sie sind die Hüter des Glaubens, einer Art Geheimreligion, von der kaum etwas nach außen dringt. Der größte Teil der Drusen ist juhhal, unwissend, und muss sich mit der religiösen Symbolik der Souvenirläden zufrieden geben. Das unscheinbare Gotteshaus direkt gegenüber dürfen Nicht-Drusen eigentlich gar nicht betreten. Wir dürfen den Tempel zu unserem Erstaunen sogar filmen.
Wehrhafte Drusen?
Die Religion ist eng verwandt mit dem Islam, glaubt aber auch an Seelenwanderung. Vor allem: Druse kann man nur durch Geburt werden, nicht durch Beitritt, nicht einmal durch Heirat. Den Muslimen gelten sie deshalb als Abtrünnige. Rana spricht den Sheikh auf die Gefahr an, die den Drusen drüben in Syrien droht, durch die Islamisten. Es gab schon ein erstes Massaker mit 20 Toten. Werden die Drusen das Schicksal der Jesiden teilen, der religiösen Minderheit im Irak?
Sheikh Hassan sieht die Drusen wehrhaft: "Wir werden nicht nur von einer Seite bedroht, die Gefahr kommt von überall her. Unsere Botschaft ist der Frieden. Aber wir sind nicht die Jesiden. Wir können uns wehren und werden uns wehren. Und wir werden allen helfen, die aus Syrien zu uns kommen. Das gebietet uns unsere Gastfreundschaft, für die wir seit Urzeiten bekannt sind."
Solidarität und Gastfreundschaft - für die Kinder hier in Barouk ist es die Rettung. Alle sind sie vom Krieg in der Heimat traumatisiert. In den Räumen der Kindernothilfe lernen sie, ihre Erlebnisse zu bewältigen. Am Ende des Trainings sollen sie in der Lage sein, eine normale Schule zu besuchen. Wie Rana sind viele der Helferinnen selbst Flüchtlinge und Drusinnen, auch Nadya Rabah, die Psychologin. Eigentlich hat sie hier eine gutgehende Praxis. Jetzt widmet sie sich fast ausschließlich den syrischen Kindern. Heute sollen sie aufzeichnen, was sie belastet: Alle malen ihre Kriegseindrücke.
Die Kinder, der Krieg und der Tod
"Und dann sind Hubschrauber gekommen", erzählt der 12-jährige Halim: "Überall wurde geschossen. Wir sind kaum aus dem Haus ins Auto gekommen. Meine Schwester bekam einen Bauchschuss, aber wir haben es erst gar nicht gemerkt. Im Auto haben wir dann das ganze Blut gesehen. Dann ist sie gestorben. Warum meine Schwester? Ich hätte sie schützen müssen."
"Wir waren zu Hause", sagt Mara, auch sie 12 Jahre alt: "Plötzlich schlug eine Bombe ein. Wir rannten zum Haus meines Onkels. Wir hatten solche Angst vor all den Waffen. Hinter einem Baum sahen wir Schatten von Soldaten. Hier im Libanon habe ich ein Foto von meinem Haus bekommen: Es ist total zerstört."
Die Heimat fehlt den Kindern am meisten. Alle wollen sie nach Hause zurück. Aber sie lernen mit dem Verlust umzugehen. Und nach einigen Wochen im Zentrum der Kindernothilfe malen sie wieder Bäume, Schmetterlinge und die Sonne. Hier bei den Drusen im libanesischen Schuf-Gebirge sind sie wenigstens in Sicherheit.
Autor: Stefan Maier, ARD Kairo
Stand: 18.09.2015 16:54 Uhr
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