So., 25.07.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Libanon: Missmanagement und Verbitterung
Noch immer liegt der Hafen in Trümmern. Der Aufbau im angrenzenden Stadtviertel läuft schleppend und die Suche nach den Verantwortlichen ist noch keinen Schritt weiter. Ziad Ne’ma Constantine betreibt eine Firma im Hafen, acht Spezialkräne hat er am 4. August 2020 verloren. Er hat neue gekauft, 100.000 Euro investiert. "Was bleibt uns übrig, wir müssen weitermachen", sagt er. Auf die Politik vertraut er schon lange nicht mehr, die müsste die Wirtschaft ankurbeln, aber nichts passiert. Seinen Kindern rät er deshalb, das Land zu verlassen.
Kriege, Krisen, Neuanfang
Der Hafen von Beirut ist der Gradmesser der Wirtschaft des Landes. Und der misst derzeit nicht viel Positives. Nur vereinzelt landen Container noch mit Importware in Beirut. Ziad Constantine transportiert sie dann weiter zu den Kunden. Ziad hat Nerven wie die sprichwörtlichen Drahtseile an seinem Kran. Bei der Explosion im vergangenen Jahr gab es glücklicherweise nur Leichtverletzte in seinem Betrieb. Aber seine Kräne. Acht Spezialkräne hat er verloren. "Wir müssen weitermachen, wir kennen das nicht anders. Wir haben Hochs und Tiefs, mehrere Kriege erlebt. Wir sind Krisen gewohnt. Wir sind gezwungen, wieder neu anzufangen." Die Familie hat mit 120.000 Dollar gebrauchte Kräne gekauft. Kurz nach der Explosion, um sofort wieder im Markt operieren zu können. Aber es tut sich wenig. "Wir warten auf eine Regierung, die Projekte ankurbelt, Beirut und den Hafen, das ganze Land wiederaufbaut. Die Infrastruktur des Libanon ist am Boden."
Der Hafen von Beirut, einst der wichtigste des Landes, verdient diesen Namen nicht mehr. Denn seit der Explosion des Ammoniumnitrats ist nur etwas aufgeräumt worden. Auch im Umfeld sind die Schäden noch immer immens. 15 Milliarden US-Dollar soll der Wiederaufbau kosten. Wer zahlt dafür? Juristisch ist bisher keine Schuld festgestellt worden. Keine Verantwortung, keine Entschädigung. Viele Immobilienbesitzer sind ruiniert. Zum Beispiel Toni Gemayels Familie, die hier verteilt auf den Etagen gelebt hat, ist nicht in der Lage aus eigenen Mitteln das Haus wieder bewohnbar zu machen. Tonis Bruder starb in dieser Wohnung. "Nach der ersten Explosion hatte er seine Frau und seine Kinder ins Treppenhaus geschickt", erzählt Toni Gemayel. "Er filmte nach der ersten Explosion das Feuer. Dann kam die zweite Explosion."
Suche nach Antworten – bisher vergebens
Wie ein Mahnmal staatlichen Versagens stehen die Reste der nationalen Getreide-Silos im Hafen. Ein Mahnmal für die Überforderung. Experten aus Deutschland rückten an, um Tonnen von giftigen Chemikalien, Säuren und Farben zu bergen. Libanon war und ist für Chemiekatastrophen in keiner Weise gerüstet. Das Bremer Unternehmen lud am Ende 59 Container mit der hochgiftigen Fracht, um sie nach Deutschland zu bringen. Dort wurde der Müll im Mai entsorgt. Das war es, mehr ist nicht passiert.
Sie gehen deshalb noch immer auf die Straße. In der Regel einmal im Monat. Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, Töchter, Söhne trauern um ihre 207 Toten. Auch Tonis Bruder ist am 4. August 2020 gestorben. Er sucht Antworten, noch immer. Wer ist für die Explosion verantwortlich, wer hat seinen Bruder auf dem Gewissen? "Bis heute ist nichts klar. Anstatt alles zu tun, um die Wahrheit zu finden, flüchten sie vor der Wahrheit. Das machen nur Kriminelle. Diejenigen, die sich nicht vor dem Richter verantworten wollen sind Kriminelle."
Für den Unternehmer Ziad hat die Explosion das Fass der Verzweiflung endgültig zum Überlaufen gebracht. Der Vertrauensverlust in den Staat ist einfach zu groß sagt er. Ganz besonders bei der jungen Generation. "So Gott will, werden unsere Söhne Vertrauen in dieses Land haben. Aber ich bezweifle das. Wenn sie ihre Ausbildung an der Universität abgeschlossen haben, dann werden sie ins Ausland exportiert. Wir werden sie wegschicken in Länder, die sie als menschliche Wesen respektieren." Ziads Sohn will ebenfalls weg. So wie viele. Nach der Explosion stiegen die Auswanderungsanträge in westlichen Botschaften um 30 Prozent auf 380.000 an. Dem kleinen Land laufen die jungen Leute davon.
Autor: Alexander Stenzel, ARD-Studio Kairo
Stand: 25.07.2021 21:21 Uhr
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