So., 25.07.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Libanon: Eigeninitiative und Überlebenswille
Weil der Staat praktisch nicht mehr existiert und die Menschen überall im Libanon nicht genug zum Überleben haben, nimmt Maya Terro die Dinge selbst in die Hand. Sie hat eine Hilfsorganisation gegründet: "Foodblessed". Denn Menschen hungern im Libanon nicht erst seit der Katastrophe im Hafen. Seit 2012 bringt "Foodblessed" Essen in die armen Viertel der Städte. Zum einen, um die pure Not zu lindern, zum anderen aber auch weil Maya Terro und ihre Mitstreiter:innen davon überzeugt sind, dass Essen Menschen zusammenbringt und so Gemeinschaft gefördert wird. In einem Land, im dem der Staat versagt, solche grundlegenden Dinge für seine Bürger zu sichern, greifen Organisation wie "Foodblessed" zur Eigeninitiative.
Lebensmittelspenden wo der Staat versagt
Einmal in der Woche öffnet Maya Terro das Tor zum Warenlager. Foodblessed nennt sie ihre Hilfsorganisation – gesegnet mit Essen. Die Truppe ist jung und arbeitet ausschließlich ehrenamtlich. Wird von Maya aber generalstabsmäßig organisiert. Öl, Konserven, Reis und Hülsenfrüchte packen sie ein. Finanziert ausschließlich über private Spenden. Und die kommen oft von wohlhabenden Libanesen aus dem Ausland. "100% der Spendengelder kommen direkt den Bedürftigen zu. Wir zahlen uns selbst keine Gehälter, wir haben praktisch keine Verwaltungskosten. Mit jedem Dollar, den wir bekommen kaufen wir Lebensmittel ein. Im Großhandel, da ist es günstiger."
Heute stellen sie Pakete für 400 Familien, zusammen, die davon eine ganze Weile zehren werden. Die Hälfte der Bevölkerung im Libanon lebt inzwischen unter der Armutsgrenze. "Wir helfen auch Menschen außerhalb der Hauptstadt" sagt Iman Krounbi, "denn dort leiden die Leute oft die größte Not. Die Situation macht mich wirklich traurig, ich hätte nie damit gerechnet, dass mein Land und mein Volk in solch eine Krise geraten." Und Tarek Naim klagt: "Eigentlich müsste die Regierung für diese Menschen sorgen, aber unsere Politiker sind total unfähig. Selbst der Nachschub von Medikamenten ist gestoppt, nicht mal die Grundversorgung ist mehr sicher." Abends wird der Kleinlaster noch fertig gemacht für den Weitertransport am nächsten Tag. In ihrer Freizeit helfen die jungen Leute, wo der Staat versagt.
Mit Protestsongs gegen korrupte politische System
Staatsversagen ist auch ihr Thema. Noel und Michelle Keserwani komponieren ihren nächsten Politsong. Ihre Musikvideos sind populär im Internet, weil Texte und Bilder ironisch das System aufs Korn nehmen. Eigentlich sollte man in unserem Alter Liebeslieder schreiben, aber das geht hier nicht, singen die beiden. Denn die Häuser sind zerstört, die Banken in Flammen. Korrupte Politiker, die sich selbst die Taschen füllen und uns nur leere Kühlschränke bescheren. "Hier am Brett haben wir alle Ideen und Themen aufgepinnt, um die es in den Texten geht", sagt Noel Keserwany. "Aber der Auslöser fürs Songschreiben ist immer das Gefühl: wir müssen was sagen, sonst explodieren wir." Und Michelle Keserwany ergänzt: "Wir sagen: das Problem liegt im System. Und mit System meinen wir: Unsere politischen Parteien bilden alle zusammen eine riesige Miliz oder Mafia, die nur ein Ziel hat: sich selbst an der Macht zu erhalten." Deshalb werben die Schwestern in den sozialen Medien für unabhängige Kandidaten. Gerade entstehen neue Parteien im Libanon. Ob die eine Chance haben, keine Ahnung.
Aber wer will, dass sich im Land etwas ändert, muss individuell was tun, findet auch Maya Terro. Die Leute von Foodblessed, der Hilfsorganisation, nehmen uns mit nach Tripoli eine Stunde nördlich von Beirut. Vorbei an langen Schlangen vor Tankstellen – wegen des Devisenmangels ist auch der Sprit knapp im Libanon. Tripoli ist eine der ärmsten Städte des Landes, kaum Industrie. Hier sind die Menschen besonders auf die Hilfslieferungen angewiesen. Die Bedürftigkeit der Empfänger wurde vorher überprüft, um Missbrauch mit den Spenden zu vermeiden. Bei Sanaa Nasser gibt’s da keinen Zweifel. Ihr Mann ist arbeitslos, sie putzt manchmal in fremden Haushalten und sagt ganz offen, dass sie auf der Straße betteln geht, um ihre Familie zu ernähren. Mit den Schwiegereltern zusammen wohnt sie in einem der Slumviertel. Acht Menschen in zwei kleinen Räumen. Strom gibt’s seit der Krise nur vier Stunden am Tag, der Kühlschrank ist keiner mehr. Dass sich sogar der Preis für Brot versechsfacht hat – für Sanaa ist das existenzbedrohend. "Ich habe vier Kinder, wenn ich jedem von Ihnen mal was zum Anziehen kaufe, habe ich kein Geld mehr fürs Essen. Wir wären besser tot." Sanaas Familie – ein Fall von vielen im Libanon.
Junge Menschen überlegen auszuwandern
An der Felsküste von Beirut treffen wir Noel Keserwany wieder. Stimmung einfangen für ihr nächstes Musikvideo. Strände sind im Libanon oft in Privatbesitz. Hier, erzählt mir ihre Schwester Michelle, ist einer der wenigen Badeplätze, wo der Eintritt frei ist. Wer zuhause keinen Strom hat und wenig Geld fürs Essen, braucht Gratis-Vergnügen. Interview mit den Schwimmern: wie geht’s ihnen in der Krise? Eine Frage ist immer: im Libanon bleiben, oder auswandern? "Ich denke, ob die Jungen gehen oder bleiben, da gibt’s nicht die eine Antwort. Wer es hier im eigenen Land schafft, das Nötigste zum Leben zu haben, wird bleiben. Und wenn das nicht so ist, überlegen die Leute, wegzugehen." Wir lieben unser Land sehr sagt sie noch – aber es ist einfach schwierig hier. Auch die Schwestern selbst wissen noch nicht, ob sie dauerhaft hierbleiben, oder ob sie’s am Ende nicht doch nach Europa zieht.
Autorin: Ute Brucker
Stand: 26.07.2021 11:11 Uhr
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