So., 07.07.19 | 19:20 Uhr
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Malaysia: Verzweifelt – Babys im Müll
Fünf Jahre musste Farah hinter Gitter, weil sie ihr Baby direkt nach der Geburt aus dem Fenster geworfen hat. Dass sie schwanger war, wusste sie damals nicht, erzählt sie uns. Ein Bekannter habe ihr offenbar ein Betäubungsmittel in die Cola gemischt. Dann müsse er sich an ihr vergangen haben, sagt sie heute. Doch damals war sie 18, noch Jungfrau und wusste nicht viel über ihren Körper.
Im Durchschnitt alle drei Tage ein Baby im Müll
"Als ich aufgewacht bin, war meine Hose halb heruntergezogen. Ich fühlte mich irgendwie komisch, aber ich habe mein Leben dann einfach weitergelebt und niemandem davon erzählt", erzählt Farah. Die Schwangerschaft will niemand wahrhaben. Sie nicht, ihre Familie nicht. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Farah ist nachts allein, als sie ein heftiges Ziehen im Bauch bemerkt. Sie hat panische Angst, als etwas aus ihrem Körper kommt.
"Ich hatte keine Ahnung, dass das ein Kopf war. Ich habe versucht, ihn wieder reinzudrücken, aber irgendwann ging das nicht mehr und dann sagte eine Stimme in meinem Ohr immer wieder: Wirf das Baby weg! Wirf es weg", so Farah.
Baby im Müll gefunden: Im Durchschnitt alle drei Tage passiert das in Malaysia. Die Mütter: oft junge Mädchen, unverheiratet. Ihre unehelichen Neugeborenen nennt man hier schmutzige Babys. Für manche Mütter ist die Schande so groß, dass sie ihr Baby einfach wegwerfen. Gerade junge Muslima stehen unter extremem Druck, so die Menschenrechtsaktivistin Hartini Zainudin. Statt um Hilfe geht es oft nur um Ächtung, sagt sie. Die muslimische Religionsbehörde kann eine unverheiratete Mutter im schlimmsten Fall sogar mit Gefängnis bestrafen.
"Immer werden nur die Mädchen verantwortlich gemacht. Sie trifft das Stigma und die Schande, weil sie schwanger werden und die Babys austragen. Die Jungen oder Männer kommen einfach so davon", findet Hartini Zainudin, Aktivistin & Mitgründerin "Yaaysan Chow Kit".
Jedes Jahr werden 18.000 Teenager schwanger
Malaysia ist eine mehrheitlich muslimische Nation. Zumindest die Muslime im Land unterliegen den Gesetzen der Scharia. Sexuelle Aufklärung gilt immer noch als anrüchig, weil es angeblich Jugendliche zu Sex verleite. Doch jedes Jahr werden in Malaysia trotzdem 18.000 Teenager schwanger. Siti, 17 Jahre alt, war eine von ihnen. Ihr Sohn ist jetzt fünf Monate alt. Sex: auch in ihrem muslimischen Elternhaus ein Tabu-Thema. Sich für die Ehe aufzusparen, das ist Gesetz. Eigentlich. "Ich wusste, dass es verboten war. Aber ich wollte es trotzdem ausprobieren und so habe ich es getan", erzählt Siti.
Der Frauenarzt weigert sich, das Kind abzutreiben. Siti ist verzweifelt. Ihre geschiedene Mutter schickt sie sofort in ein mit Spenden finanziertes Frauenhaus. Bis heute weiß weder ihr Vater noch der Rest der Familie, dass die Schülerin ein Kind hat. Offiziell geht sie jetzt auf eine Schule mit Internat.
"Als meine Mutter das mit der Schwangerschaft erfahren hat, ist sie vor Enttäuschung krank geworden. Dann hat sie mich sofort von der Schule abgemeldet, um die Schande zu vertuschen", berichtet Siti. Ihr Sohn wird jetzt bald als ihr Bruder aufwachsen. Denn Sitis Mutter hat bereits überall erzählt, dass sie noch ein Baby adoptiert. Nur mit dieser Lüge kann Siti zurück in ihr altes Leben.
Einige Schwangere landen in einer Art muslimischen Besserungsanstalt für gefallene Mädchen
Am anderen Ende der Stadt: Auch Nurul war schwanger und ledig. Sie ist 22 Jahre alt, eigentlich erwachsen, aber lebt seit einem Jahr im Haus "Bewahrer des Seelenfriedens", eine Art muslimische Besserungsanstalt für gefallene Mädchen. "Meine Eltern wollen, dass ich hier lerne, auf meinen Körper zu achten, dass ich ein verantwortungsvoller Mensch werde und nicht nur an mich selbst denke. Ich soll eine engere Bindung zu Allah aufbauen", so Nurul.
Ihr Sohn ist jetzt zehn Monate alt. Direkt nach der Geburt hat sie ihn Adoptiveltern übergeben. Eigentlich wollte sie das Baby behalten. Doch als ihr Freund sie nicht heiraten will, drängen ihre Eltern: Trenn Dich von dem Kind! "Es war hart für mich, mein Kind zu übergeben, aber ich habe mir gesagt, dass es wohl das Beste für ihn ist. Ich habe gelernt zu akzeptieren, dass die Adoptiveltern besser für ihn sorgen können", erzählt Nurul.
Malaysisches Sprichwort: Lass das Kind sterben, nicht die Tradition
Nurul und die anderen Mädchen sind zwischen zwölf und 25 Jahre alt. Ihnen wird hier Enthaltsamkeit gepredigt. Über allem steht der Koran. Mindestens 15 Monate und bis zu vier Jahre verbringen sie hier, zwischen Schule, Nähkurs und Gebeten. Viele Eltern nähmen die religiöse Erziehung ihrer Kinder nicht ernst genug, heißt es hier.
"Wir lehren hier nicht freien Sex und wie nennen Sie das? Verhütung? Nein, das ist nicht der Weg. Es geht um Zurückhaltung, Respekt und dass Du Deinen Körper nicht so einfach hergibst", so Rosmawati Zainal, Leiter "Bewahrer des Seelenfriedens".
Für die Mädchen ist das hier die einzige Chance, wieder in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Denn ein malaysisches Sprichwort sagt: Lass das Kind sterben, nicht die Tradition.
Autorin: Sandra Ratzow / ARD Studio Singapur
Stand: 08.07.2019 14:39 Uhr
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