Mo., 17.09.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Mexiko: Der unheimliche Jahrestag
Mexiko-Stadt erwacht. Und birgt nicht jeder Morgen das Versprechen eines Neuanfangs? Für Rodrigo Heredia ist das keinesfalls eine Gewissheit mehr. Es ist Wochenende und doch geht es zur Sache. Rodrigo trainiert den Notfall. Ein Erdbebenopfer soll gerettet werden. "Das sorgt für Flashbacks. Das erinnert mich an den 19. September. Die Erde wird wieder beben, das ist sicher. Heute, Morgen. Du weißt nicht wann und du weißt nicht, wirst du ein Retter sein oder musst du gerettet werden", erzählt Rodrigo Heredia, Erdbebenopfer.
Mit dem Einsturz steht die Zivilbevölkerung auf
Das Erdbeben ging Rodrigo buchstäblich unter die Haut. Mit Tinte ins Fleisch gestochen: Die hochgeregte Faust, der Menschen, die helfen. Am 19. September bebt die Erde in Mexiko. 7,1 – so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Binnen 15 Sekunden stürzt dieses Bürogebäude ein – 77 Menschen mit ihm. "Es fängt an zu beben. Ich sehe wie die Decke reißt und auf uns zukommt, dann war absolute Dunkelheit...Die Decke war hier. Ich konnte die Arme nicht ausstrecken", erinnert sich Paulina Gomez, Erdbebenüberlebende.
Mit dem Einsturz steht die Zivilbevölkerung auf. Sie eilt zur Rettung. Wenn es sein muss, mit bloßen Händen. So wird auch Rodrigo zum Helfer, sucht mit einem Rettungsteam 30 Stunden lang am Rande der Erschöpfung nach Verschütteten.
"Wir hörten Hammerschläge, die immer näherkamen. Dann: Ist da jemand? Wir schrien, wir sind drei, wir leben! Es gibt Lebende! Man hörte die Jubelschreie", erzählt Paulina Gomez. Die Helfer quetschen sich tief zwischen Stein, Stahl und Beton. Durch das, was einst ein ganzes Stockwerk war. Endlich, da ist Paulina. "Wir kommen Dich holen, halt noch einen Moment aus". Paulina Gomez: "Als ich rausgeholt wurde, da haben mich die Gefühle überwältigt."
Erinnerungen an das Erdbeben
Und heute? Was hat das Erdbeben mit Paulina gemacht? Das Gehen fällt der 36-jährigen schwer. In keinem anderen Stockwerk starben so viele Menschen wie in ihrem. "Warum habe gerade ich überlebt?" Die Frage bohrt bis heute. "In meinen Erinnerungen spüre ich noch immer die Anwesenheit derer hier, die gestorben sind. Aus der Wunde ist eine Narbe geworden, aber es war doch ein Jahr des Schmerzes, zu akzeptieren, das so viele fehlen", so Paulina Gomez.
Ihre Arbeit hat sie aufgegeben. Was Paulina heute wirklich freut? Wartet kurz, dann verrate ich es euch. Dort, wo für sie das Leben zusammenbrach, gehen heute viele gedankenlos vorbei. In der Hauptstadt scheint das Leben wieder bunt, fröhlich und laut zu sein. Zu den fröhlichen Menschen gehört Saul Calderon. Eine Ikone der Stadt, selbst im Internet berühmt, weil er so leidenschaftlich gerne tanzt. Saul hat mit 95 Jahren sein Zuhause verloren. Wohnt jetzt in einem kleinen, dunklen Apartment. Er will uns lieber zeigen, wo er so lange glücklich war: "Klar bin ich traurig! Da habe ich gelebt, jetzt ist es kaputt", erzählt Saul Calderon.
Saul hatte sein Apartment längst abbezahlt. Der Neubau wird teurer, da müsste er noch was draufzahlen. Die Stadt bietet ihm einen Kredit: über 30 Jahre..."Nicht mehr lange, dann bin ich Geschichte. Der Kredit, ich hoffe der ist nicht so hoch, den muss meine Enkeltochter dann abbezahlen", so Saul Calderon.
Das Erdbeben trifft die Alten auf besondere Weise. In der Stadt sind noch viele Wunden offen. Da, wo die Not noch erschütternd groß ist, treffen wir Rodrigo wieder. Seit einem Jahr lebt Anayansi Pino, wie ihre Nachbarn, im Wasser. "Das war mal das Wohnzimmer. Und wenn du glaubst, das ist wenig Wasser – manchmal steht das Wasser bis hier hoch", erzählt Anayansi Pino. Das Erdbeben hat die Kanalisation zerstört. Die Regierung lässt Anayansi allein. "Du lebst im Wasser, isst im Wasser, schläfst im Wasser und die Kinder machen ihre Hausaufgaben im Wasser".
Hilfe für Überlebende
Rodrigo Heredia: "Leute, wenn ihr was tun wollt...". Mit Aufrufen im Internet helfen Rodrigo und sein Netzwerk bis heute dort, wo es allen an allem fehlt. Kleidung, Lebensmittel, Hygiene- und Spielsachen. Alles, was sich spenden lässt. Alles, was sich tragen lässt, bringen sie mit. Diana Chavez, Helferin: "Die Regierung hat sich verdrückt." Vielleicht genauso wichtig: Der Trost, die Umarmung. Menschliche Nähe, sucht auch Saul Calderon. Viele alte Menschen sollen nach dem Erdbeben gestorben sein, schlicht weil sie den Lebenswillen verloren haben. "Ich bin 95 Jahre alt und fange erst an", so Saul Calderon.
Menschliche Begegnung, das ist was Paulina glücklich macht. Was sie wirklich zum Lächeln bringt. "Wir haben uns gefunden. In Trümmern gefunden. Unter Tonnen von Leid, aber wir haben uns gefunden. Können uns die Hand reichen und uns umarmen, einander retten", erzählt Rodrigo Heredia. Der Einsturz also baute eine Freundschaft auf.
Autorin: Xenia Böttcher/ARD Studio Mexiko
Stand: 28.08.2019 04:31 Uhr
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