So., 03.11.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Mexiko: Die Philharmonie der Armen
Es ist dieser Moment – kurz vor dem Konzert. Wenn einem die Aufregung die Nerven wegfrisst, die Gäste einen Musik-Genuss erwarten, das ist der beste Moment für Rosi: Doch ihr Weg hierher war alles andere als leicht.
"Die Musik war meine Rettung"
"Die Musik war meine Rettung. Weil davor hatte ich große Probleme in meiner Familie", erzählt Rosi Colin, Musikstudentin. Valle de Bravo ist für Touristen ein Ort des leichten Lebens. Ideal für einen Wochenendausflug. Doch im bergigen Umland bringen sich die Familien nur mühsam über die Runden. Rosis Mutter tingelt mit kleinen Säckchen Tomaten von Tür zu Tür, um ein paar Pesos zu verdienen. "Wir haben kein Geld", erzählt eine Frau. Rosi wächst in großer Armut auf. Für einen ordentlichen Herd reicht es der Familie bis heute nicht. "Wir alle haben eine schwierige finanzielle Situation. In meinem Fall haben meine Eltern einfach nicht genug Geld", erklärt Rosi Colin.
Die Familie schaut auf düstere Tage zurück. Rosis Vater ist Alkoholiker. Was er von der Arbeit nach Hause brachte, war Suff und Wut – aber kein Geld. "Meine Mutter weinte, meine Kinder. 'Papa, bleib bei uns!', sagten sie. Aber nein, ich bin trinken gegangen", erzählt Jose Colin, Vater von Rosi.
Entschlossen, das Leben ihrer Kinder zu ändern, meldet die Mutter alle drei bei einem neuen Orchester an, ohne einen Cent dafür zahlen zu können. Die Entscheidung wird ihr Leben komplett verändern.
Ein Orchester für arme Kinder
Er ist der Mann, der Kinder für Musik begeistern kann. Prospero Reyes will mit Profi-Musikern, Ruhm und Reichtum nichts zu tun haben. "Alle Schulen wählen streng aus. Sie wollen das beste Kind der Welt. Mich interessiert nicht das beste Kind. Mich interessieren alle Kinder", so Prospero Reyes, Musikalischer Direktor 'Filarmonia Vallesana'. Prospero dirigiert die Philharmonie Vallesana, ein Orchester für arme Kinder, finanziert durch Spenden. Denn sie alle haben kein Geld für Unterricht, erst recht nicht für Instrumente, dafür aber offensichtlich Neugier und Leidenschaft: Jeder ist willkommen.
Und sie lernen mehr als ein Instrument; auch Teamplay, Verantwortung, Kreativität. Das Konzept: Lernen ist ein Spiel, ohne Erfolgsdruck. Die Schüler dirigieren, übernehmen Führungsrollen. Gewinnen Selbstbewusstsein. Auch Rosi, die hier neuen Lebensmut findet.
"Ich bin super dankbar, dass die Musik zu mir gekommen ist. Weil sie mich rausgeholt hat aus dieser schrecklichen Welt, dieser Einsamkeit, in der ich mich verloren habe...Die Musik ist mein Leben", sagt Rosi Colin.
Mehr als nur ein Orchester
Alvaro Osorio wiederum hat eine Familie gefunden: "Ich bin ein Waisenkind und das hier ist meine Familie, wirklich. Für mich ist das hier sehr schön. Also wenn es das hier nicht geben würde, dann wäre ich wirklich arm." Wie wichtig muss das Orchester sein, dass Alvaro jedes mal zwei Stunden läuft, um zur Probe zu gelangen? Und nicht nur dass, er bringt das Programm der Philharmonie zu seinen Nachbarn. "Also, das ich anderen etwas beibringen kann, ist für mich ein Motor, der mich antreibt. Mehr noch: Hier im Dorf, wir werden durch die Musik geeint, das bedeutet mir viel", erzählt Alvaro Osorio.
Rosi ist heute Musik-Studentin. Ihre Universität ist weit von zu Hause entfernt. Klavierunterricht, Saxophonunterricht. Hier zu bestehen ist nicht leicht. "Nicht so schnell. Du rast. Jetzt bist du nervös, konzentrier Dich", so eine Lehrerin.
Und es gibt Sorgen, die schwer wiegen: Wie die Unterkunft hier bezahlen, wie das Essen? Die Universität versucht Rosi zu unterstützen so gut es gerade geht. Sie sei einfach zu gut, die Philharmonie Vallesana habe sie hervorragend ausgebildet.
"Sie ist eine herausragende Schülerin, erste Klasse für uns und wir versuchen alles, damit sie auf dem Niveau weitermachen kann", erzählt Yurev Vivero, Universidad Autonoma del Estado de Mexico.
Wenn aus der Philharmonie der Armen, ein Reichtum für alle wird
"Wenn mir jemand sagen würde: ‚Willst du Dein Leben tauschen?‘, ich würde es nicht tun. Denn jetzt bin ich ein Mensch, auf den ich stolz bin. Ich musste früh reifen. Und das Beste ist: Als ich mit der Musik anfing, sagte mein Vater, er wird mit dem Alkohol aufhören und seine Familie zurückgewinnen...", erzählt Rosi Colin.
Rosis Vater hat durch die Musik tatsächlich aufgehört zu trinken. Er arbeitet jetzt als Techniker für die Philharmonie. Und heute erwartet die jungen Musiker ein bedeutender Höhepunkt: Ein Konzert am besten Platz in Valle de Bravo.
"Das ist fundamental wichtig, ein absolutes Wachstum des Selbstvertrauens", erklärt Prospero Reyes.
Hier dabei zu sein, ist für Rosi Ehrensache. Es ist der Moment, wenn die Kinder erleben, was sie gemeinsam erreicht haben, wie sie mit ihrer Arbeit Freude bereiten. Wenn aus der Philharmonie der Armen, ein Reichtum für alle wird.
Autorin: Xenia Böttcher
Stand: 04.11.2019 10:56 Uhr
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