So., 10.07.22 | 18:30 Uhr
Das Erste
Mexiko: Der Überlebenskampf der Retter
Es sind erschreckende Zahlen: Die Metropole Mexiko-Stadt hat nur 290 offizielle Krankenwagen - ein Rettungswagen für 31.000 Einwohner. Viel zu wenig! Deshalb ist ein informeller Markt für Krankentransporte entstanden. Familie Ochoa hat einen Krankenwagen gekauft und ihn mit Erste-Hilfe-Zubehör ausgerüstet. Damit verdienen sie als private Retter ihr Geld. Vater, Sohn und Neffen sind nachts mit ihrer Ambulanz auf den Straßen unterwegs. Sie hören den Polizeifunk ab und rasen los, wenn sie von einem Unfall oder einer Schießerei hören. Teils müssen sie sich Wettrennen mit anderen privaten Ambulanzen liefern. Wer zuerst bei den Verletzten ist, hat Chancen, mit dem Krankentransport etwas Geld zu verdienen.
Wettrennen gegen die Zeit – und andere Ambulanzen
Ein kurzes Gebet: Möge alles gut gehen. So beginnt der Arbeitstag der Ochoas. "Hoffentlich denkt Gott an uns und schickt uns was Gutes", sagt der Sanitäter Fernando Ochoa. Ein letzter Check. Alles liegt bereit in der Ambulanz von Fernando Ochoa und seinem Schwager. Jetzt heißt es warten auf Unfälle, Schießereien, Prügeleien – Funk und Telefon immer am Ohr. "Los gehts!" Es geht in den Straßenkampf: Motorrad-Unfall, ganz in der Nähe. "Noch fünf Minuten" … "Los fahr – stellt Dir vor, es wäre Dein Angehöriger!" kommt die Durchsage von Fernando über Lautsprecher.
Ein Rennen – auch gegen andere Ambulanzen, gegen die Zeit. Diesmal schaffen sie es als Erste zum Unfallort. Eine junge Frau hat sich wohl Rippen gebrochen. Und während drinnen die Versorgung beginnt, geht es draußen ums Geld. "Wie ist der Unfall passiert? "Wir haben die Spuren gewechselt." "Bist du versichert?" "Nein." "Werden Sie uns den Transport berechnen?" "Ich berechne 1.500 Pesos." "Wir warten jetzt darauf, dass sie uns sagen, wohin wir dich bringen." Die junge Frau hat keine Versicherung, wie so oft in Mexiko. Und die Familie hat kein Geld, um den Transport zu bezahlen. Die Ochoas liefern sie trotzdem im Krankenhaus ab. Obwohl sie damit nichts verdienen. "Immerhin bin ich zufrieden, dass wir vor den anderen Ambulanzen da waren", sagt Fernando.
Zu wenige Krankenwagen in Mexiko-Stadt
Es ist eine Gratwanderung: Zwischen der Sorge ums eigene Überleben und dem Wunsch, zu helfen. Und da ist die Hoffnung, dass sich doch noch etwas ergibt. Denn am öffentlichen Krankenhaus warten Dutzende. Zeit für Tacos im Stehen. Doch jeden Moment könnte wieder ein Anruf kommen. Ein Leben auf Adrenalin. Fernando macht das schon seit 37 Jahren. Denn in Mexiko-Stadt gibt es zu wenige öffentliche – und damit kostenlose Ambulanzen: Für neun Millionen Einwohner sind pro Schicht nur etwa 70 Krankenwagen im Einsatz. Und die kommen kaum hinterher. Die Lücke füllen Klein-Unternehmer wie die Ochoas. Fernandos Söhne sind ALLE ins Geschäft eingestiegen, rüsten ausrangierte Krankenwagen auf. Reich werden sie nicht. Aber ja – sie verdienen mit der Not Anderer. Aber nur, weil der Staat versage. "Wer meine Hilfe nicht will, dem sage ich: Dann warten sie eben auf die öffentliche Ambulanz. Aber wie lange? Eine halbe Stunde? Eine Stunde?"
In der Nacht übernehmen die Söhne. Und es sind lange Nächte auf der Partymeile, weil sich hier am meisten tut. Die Brüder sind erst um die 20, aber seit ihrer Kindheit unterwegs in der Ambulanz des Vaters – und mit Sanitäter-Ausbildung, betonen sie. "Es gibt unregulierte Ambulanzen, einige sind mit falschen Kennzeichen unterwegs", erzählt Juan Ochoa. "Es ist wie bei allem: Es gibt gute Polizisten und schlechte Polizisten. Es gibt gute und schlechte Ärzte."
Ein Leben zwischen Langeweile und Adrenalin
Der Wechsel zwischen Langeweile und Adrenalin hat alle Ochoas gepackt. Ein rauer Job, aber ein schöner – sagt Juan. Die Notfälle kommen aus dem Nichts. Wieder ein Unfall. Ein Auto hat einen Mann erwischt. Jetzt muss jeder Handgriff sitzen. Noch ist unklar, wie schwer die Verletzungen sind. "Wie heißt du?" … "Julio? Wie fühlst du dich Julio?" … "Wie sieht das hier aus? Ein Kombi, eine U-Bahn wo sind wir? … In einer Ambulanz, genau."
Während sie routiniert arbeiten, kommt auch die öffentliche Ambulanz, gerufen von der Versicherung des Unfall-Wagens. Weil der Patient nicht in Lebensgefahr schwebt, müssen die Ochoas ihn übergeben. Und gehen wieder leer aus. "Guck mal, wie lange die vom roten Kreuz gebraucht haben. Wir waren schon fertig, da sind die erst gekommen." … "Wir waren fast eine halbe Stunde eher da." … "Wenn wir nicht gekommen wären" … "Wenn er einen Infarkt gehabt hätte, wäre er gestorben." … "Unser Einsatz war quasi freiwillig. Wir waren schneller als die öffentlich Ambulanz und haben geholfen, aber wenn er schwer verletzt gewesen wäre, hätten wir ihn selbst ins Krankenhaus gebracht." Ein kurzer Moment des Frusts. Dann geht es weiter. Solange es zu wenige Ambulanzen gibt, solange werden sie zu Notfällen eilen – und damit Geld sichern.
Autorin: Marie-Kristin Boese, ARD-Studio Mexiko
Stand: 11.07.2022 09:29 Uhr
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