So., 22.07.12 | 19:20 Uhr
Das Erste
Japan: Volle Atomkraft voraus
Das Märchen von der Energiewende
Ein bisschen Gorleben in der japanischen Provinz. Über Nacht haben Demonstranten das Atomkraftwerk Oi besetzt. Sie überrumpeln die Wachen und ketten sich fest. Oi ist das erste japanische Atomkraftwerk, dass wieder ans Netz geht.
Die sonst so braven Japaner sind außer sich. Uiko Hasegawa macht Politik bei den noch jungen japanischen Grünen. Den Aufstand der Atomkraftgegner führt sie mit an: "Es ist völlig unklar, ob das Atomkraftwerk sicher ist. Auch wer die Verantwortung trägt im Unglücksfall. Kyoto, mit Millionen Menschen, liegt gleich um die Ecke. Hier geht es nur um wirtschaftliche Interessen. Dabei ist das wichtigste doch das Leben der Menschen."
Fleißig arbeiten sie am Neustart - die Ingenieure im Atom-Kraftwerk Oi. Premierminister Noda persönlich hatte ihnen das Wieder-Anfahren erlaubt. Vor allem auf Druck der Wirtschaft. Die leidet seit Fukushima unter 20 Prozent höheren Energiepreisen und der Angst vor Stromengpässen im heißen Sommer. Jetzt also: Volle Atomkraft voraus, auch wenn die Kraftwerks-Manager immer wieder technische Probleme einräumen müssen, zuletzt mit der externen Stromversorgung. „Können Sie garantieren, dass bei einem Beben wie in Fukushima ihr AKW standhält? Können sie garantieren, dass die Tsunami-Mauer hoch genug ist?“
"Bevor wir den Start von Reaktor 3 und 4 erlaubt haben, gab es ja einen Stresstest. Der hat gezeigt, dass es keinen schlimmeren Unfall geben kann. Sogar, wenn so ein Erdbeben und ein Tsunami wie in Fukushima passieren."
Es gehört zu den Gemeinheiten der Atomindustrie, sich immer dort niederzulassen, wo es am schönsten ist. Oi liegt am japanischen Meer. Die Küste atemberaubend. Inmitten der Idylle hat es sich versteckt - das Atomkraftwerk Oi. Seine Lage macht das AKW - allen Stresstests zum Trotz - zu einer Zeitbombe.
Eine aktive Erdspalte wurde von den Behörden bisher völlig ignoriert, sagt Keiji Kobayashi von der Uni Kyoto. Die Spalte führt mitten durch das Atomkraftwerk und kreuzt eine wichtige Kühlwasserleitung. Wie gemacht für ein zweites Fukushima. Und nicht nur Oi ist gefährdet.
In Japan werden die Atomkraftwerke von Seismologen geprüft, von Erdbebenforschern. Aber das hilft nicht. Das ist eine Aufgabe für Geomorphologen. "Die Gefahr geht von jahrtausendealten Erdverschiebungen aus", so Professor Kobayashi. "Und kein einziges japanisches Atomkraftwerk, wurde bisher darauf überprüft."
Wie kann es sein, dass die Atomlobby weiterhin so viel riskiert? Um das zu verstehen, machen wir einen Ausflug nach Tokio: 36 Millionen Einwohner sind vor über einem Jahr nur knapp einer nuklearen Katastrophe entkommen. Hier treffen wir Naoto Kan, Japans früheren Premierminister.
Kan hatte die Atomkraft immer unterstützt. Seit Fukushima aber wirbt er für den Atomausstieg - hier bei einer internationalen Konferenz für erneuerbare Energien. Erstmals spricht er mit uns über die Lehren aus Fukushima: "Bei der Vorstellung, dass wir Tokio evakuieren, dass etwa 30 Millionen Menschen in Sicherheit gebracht werden müssen, dass das gesamte Land gelähmt sein würde, da ist mir klar geworden, wir müssen raus aus der Atomkraft."
Naoto Kan erzählt vom sogenannten Atomdorf. Dem Klüngel aus Politikern, Wissenschaftlern, Journalisten, die bis heute die lukrativen Geschäfte der Atomkonzerne decken. Auch auf Kosten der Sicherheit: "Die Leute im Atomdorf haben jetzt weniger Einfluss. Aber sie sind noch immer mächtig. Sie halten mit aller Kraft an der Atomenergie fest." Dabei wünschten sich viele Menschen den Atomausstieg. Eine solche Bewegung, so Naoto Kan, habe es in Japan noch nie gegeben.
In Oi staut sich der Volkszorn auf. Die Demonstranten fühlen sich ignoriert und alleingelassen. Ihre Ängste haben bis heute kein Gehör gefunden in einem bürokratischen, obrigkeitshörigen Staatsapparat. Jetzt wollen sie mit dem AKW Betreiber sprechen. Der schickt einen Beamten der NISA vor, der Atomaufsicht. "Gucken Sie sich doch Fukushima an. Es gibt schon jetzt ganze Landstriche, in die man nicht mehr zurück kann. Wenn das gleiche in Oi passiert, würden Sie hier nicht mehr stehen können. Verstehen Sie das nicht?"
"Erst muss doch die Sicherheit geprüft werden, dann kann man das AKW ans Netz nehmen. Ist das nicht die normale Reihenfolge?"
Wer weiß, wie Japaner sonst Konflikte angehen, nämlich still schweigend, der ahnt, wie groß die Wut der Menschen ist.
Einige Demonstranten wollen das Gebäude stürmen. Dem Beamten der Atomaufsicht steckt der Schock in den Gliedern: "Ich bin körperlich okay, aber meine Seele ist gebrochen."
Auch die Grünen machen Druck: "Wem diese bunten Ballons zufliegen, der wäre im Ernstfall verstrahlt." Das in etwa hat Uiko Hasegawa auf Kärtchen geschrieben. Sie will zeigen, so schnell wie die Ballons würde sich auch eine radioaktive Wolke verbreiten. "Japan ist verrückt. Ich mache hier mit, damit sich derselbe Fehler nicht noch einmal wiederholt. In Nagasaki und in Hiroshima sind zwei Atombomben gefallen, müssen auch erst zwei Atomkraftwerke explodieren, damit alle begreifen, wie gefährlich die Atomkraft ist?"
Der sonnige Himmel über dem AKW Oi - er täuscht. Gerade hat das japanische Parlament seinen Untersuchungsbericht zu Fukushima vorgelegt. Resultat: Ein von Menschen gemachtes Unglück, befördert durch jahrzehntelange Vetternwirtschaft, Verharmlosung der Risiken und falsches Krisenmanagement.
Das AKW Oi aber zeigt, an diesen Strukturen hat sich bis heute nichts geändert. "Die Regierung hält fest an ihrer Atompolitik. Ich glaube nicht, dass Japan irgend etwas aus Fukushima gelernt hat."
Grün und Gelb - so steigen sie in den Himmel, die Ballons, die zeigen sollen wie schnell und wie weit sich eine radioaktive Wolke verbreitet. Uiko Hasegawa fürchtet, die Ballons könnten bis nach Kyoto oder Osaka fliegen - Millionenstädte. Ein bunter Luftballon dort wäre kein schöner Fund, sondern eine weitere beklemmende Warnung.
Autor: Philipp Abresch, ARD-Studio Tokio
Stand: 22.04.2014 14:56 Uhr
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