So., 09.06.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Russland: Ein Schiff wird kommen - Die schwimmende Klinik vom Ach
1.300 Menschen in Leushi in West-Sibirien. Nur jeder Fünfte hier hat Arbeit. Sie leben von den Pensionen der Alten und ein bisschen Landwirtschaft. Ein paar Lebensmittelgeschäfte, ein Kulturhaus. Die medizinische Versorgung ist schlecht. Deshalb legt am Ufer des Ach etwa alle zwei Jahre die schwimmende Poliklinik "Nicolai Pirogow" an.
"Wir haben hier nicht genug Fachärzte. Und es ist so schwer, bei denen einen Termin zu kriegen", sagt eine Frau im Ort. Tatiana, eine andere Bewohnerin ergänzt: "Wer ein Auto hat, der kann natürlich in eine Klinik in der nächsten großen Stadt fahren. Ohne kommst Du da doch gar nicht hin!"
"Alle Spezialisten, die ich brauche"
Tatiana hat es am Herzen, Das zeigen alte EKG-Aufnahmen. Sie ist froh, auf dem Schiff einen Spezialisten zu sehen: "Das Schiff ist sehr wichtig für mich. Es bringt auf einen Schlag alle Spezialisten, die ich brauche. Es wäre eine Sünde, da nicht hinzugehen. Bei den Spezialisten in der Region sind ja nie Termine frei."
Früher, in der Sowjetunion, erzählt Tatiana, wurde jungen Fachärzten nach dem Studium ein Bezirk zugeteilt. Und sie bekamen eine Wohnung. Da war die medizinische Versorgung deutlich besser, ist sie überzeugt.
Chefarzt Michail behandelt seit vielen Jahren auf der Pirogow. Und jedes Jahr wird es schlimmer mit dem Ärztemangel in der Provinz. "Das Problem gibt es doch weltweit - nicht nur in unserem Kreis. Die Ärzte kriegen keine Wohnungen, zu wenig Gehalt und darum laufen die jungen Ärzte alle weg in die Städte, um da in Privatkliniken zu arbeiten", sagt der Mediziner.
"Um uns kümmert sich keiner"
Ortswechsel. Wir fahren in ein Dorf, das auch zur Gemeinde Leushi gehört, 70 Kilometer entfernt. Die Schiffsärzte hatten sich gewundert, dass niemand von hier ihre Hilfe suchte. Wir gehen zur Krankenstation.
Gut Hundert Menschen leben im Dorf, wer medizinische Hilfe braucht wendet sich an Vera, die Krankenschwester. Sie kann nicht viel mehr tun, erklärt sie, als den älteren Diabetes-Patienten einmal täglich den Blutdruck zu messen. Warum schickt sie dann niemandem zum Schiff, fragen wir. "Vom Schiff höre ich jetzt zum ersten Mal. Hier hat niemand angerufen. Aber um uns kümmert sich doch eh niemand. Sie machen sogar den Kindergarten zu, und die Schule."
Natürlich würden viele hier gerne einen Spezialisten sehen, meint Vera. Wir kleben also ein Flugblatt des Schiffs an die zentrale Wasserstelle im Dorf.
Diagnose und Behandlung unter Zeitdruck
Am nächsten Morgen ist das Schiff voll. Auch in anderen Dörfern hat sich der Besuch der Pirogow endlich herumgesprochen. Warum allerdings die Bezirksverwaltung das nicht weiter gab, versteht niemand hier.
Jetzt muss es schnell gehen, in zwei Tagen wird die Pirogow weiterfahren zum nächsten Dorf. Selbst kleine chirurgische Eingriffe könnten sie an Bord vornehmen, aber ohne gründliche Diagnose macht das keinen Sinn.
Die „Nikolai Pirogow“ wird vermutlich erst in zwei Jahren wieder nach Leushi kommen - wenn der Wasserstand es zulässt. Sie ist das einzige Schiff dieser Art in ganz Russland.
Autor: Udo Lielischkies, ARD-Studio Moskau
Stand: 15.04.2014 11:17 Uhr
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