So., 09.06.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Türkei: Protest und Spaltung in Erdogans Reich
Die türkische Fahne weht über einer gespaltenen Nation. Gerade auf dem Taksim-Platz wird das deutlich. Zunächst als eine Art Bürger-Kriegsschauplatz und seit einer Woche, nach dem Abzug der Polizei, als Ort einer Rund-um-die-Uhr-Open-Air-Party für Hunderttausend und mehr.
Man feiert hier nicht weniger als einen historischen Sieg gegen die islamisch-konservative Regierung. Dies obwohl es noch immer in vielen Städten der Türkei zu Gewalt zwischen Polizei und Demonstranten kommt und auch hierher die Gewalt jederzeit zurück kehren könnte.
Für andere Türken dagegen ist Ministerpräsident Erdogan eine Lichtgestalt. Hat er doch die Wirtschaft des Landes seit zehn Jahren auf Wachstumskurs gebracht, den politischen Islam salonfähig gemacht und gleichzeitig die einstigen Gegner, die Militärs, in Schranken gewiesen. Zudem hat Erdogan große Wahlsiege in Folge errungen – beim letzten Urnengang fast die absolute Mehrheit.
"Gemeinsam sind wir stark"
Ali Karatuna hat nicht Erdogan gewählt. Er ist Fotograf und Tango-Lehrer - seit gut einer Woche aber "Vollzeit-Demonstrant". Bis auf wenige Stunden Schlaf lebt er inzwischen auf dem Taksim-Platz, auf den ein ganzes Land blickt. Er hat die Regierung satt, ihn nerven zum Beispiel Alkoholverbote, Vorschriften zu Kinderzahlen, Pläne für Abtreibungsgesetze oder die Inhaftierung von Journalisten. "Alle hier haben entdeckt, das wir gemeinsam stark sind. Wir sind selbstsicher und friedlich geworden und haben keine Angst mehr."
Wirtschaft boomt - dank Erdogan
Ali Ihsan Günes dagegen ist Stammwähler von Erdogans Partei AKP. Er ist in Dortmund aufgewachsen und hat er dort Ingenieurswissenschaften studiert. Vor 16 Jahren kehrte er in die Türkei zurück, gründete mit seinem Bruder eine Firma, die Garagentore herstellt. Seither ging es nur in einer Richtung: aufwärts. An Erdogans Politik gefällt ihm die Betonung der Religion und die Förderung der Wirtschaft. "Das kann man in etwa vergleichen mit Nachkriegsdeutschland - diese Aufbruchs-Stimmung, dieser enorme Sog, der in dem Markt ist, dass alle Sektoren gleich schnell wachsen", sagt Günes.
Die Demonstrationen wurden zunächst von den meisten regierungsnahen Medien totgeschwiegen. Nach gezielten Aktionen aber sind die Protestierenden inzwischen auf fast allen Kanälen präsent - zum Leidwesen von Ali Ihsan Günes. Für ihn hat Erdogan aufgrund seines letzten Wahlsiegs mit fast 50 Prozent das Recht hinter sich - im Gegensatz zu den Demonstranten. "Diesen Menschen steht völlig offen, diese Zusammenkunft, die sie jetzt erzielt haben in eine demokratische Macht umzuwandeln. Aber der Zustand, der jetzt herrscht, der ist mit nichts zu entschuldigen!"
Der kleine Gezi-Park mitten im Häusermeer Istanbuls: Für das zweigeteilte Land ist er schon jetzt ist ein geschichtlicher Ort. Zu einem tragischen Ort könnte er werden, sollte auf Geheiß Erdogans, die Polizei hierher zurückkehren.
Autor: Michael Schramm, ARD-Studio Istanbul
Stand: 15.04.2014 11:17 Uhr
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