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Tunesien: Eine Witwe wird zur Ikone

Tunesien: Eine Witwe wird zur Ikone | Bild: NDR
Vor seinem Haus wurde Chokri Belaid erschossen.
Vor seinem Haus wurde Chokri Belaid in einem Vorort von Tunis erschossen. | Bild: NDR

Der Tatort liegt in einem Vorort von Tunis. Hier wurde der Oppositionspolitiker Chokri Belaid erschossen. Der Anwalt saß in seinem Auto, als ihn die tödlichen Kugeln trafen - in Schläfe, Hals und Brust. Es war eine Hinrichtung.

"Unsere Gesellschaft kennt solche Attentate nicht"

Basma Khalfaoui Belaid, Witwe des ermordeten tunesischen Politikers Chokri Belaid.
Basma Khalfaoui Belaid, Witwe des ermordeten tunesischen Politikers Chokri Belaid setzt auf Versöhnung. | Bild: NDR

In der Wohnung empfängt seine Frau, Basma Khalfaoui Belaid, immer noch Trauergäste - und noch immer wirkt sie wie unter Schock. Sie ist nun die Witwe eines Märtyrers, der sich für eine moderne Gesellschaft eingesetzt hatte. "Das ist alles sehr traurig, weil unsere Gesellschaft solche Attentate eigentlich nicht kennt. Das ist uns sehr fremd. Wir Muslime in Tunesien haben so etwas nie gemacht", sagt sie.

Verkörperung des modernen Tunesiens

Aber auch das ist Basma Khalfaoui: Eine kämpferische Frau, die nur wenige Tage nach dem Mord vor der Nationalversammlung den Rücktritt der Regierung fordert. Für die Opposition verkörpert Basma das moderne und weltoffene Tunesien. Manchmal wirkt die sanfte Frau in diesen Tagen wie verloren, dann schaltet die Witwe wieder um und ist Politikerin: "Die Ennahda-Partei gehört zu den politisch Verantwortlichen für dieses Attentat. Sie muss nun auch die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen."

Ennahda-Partei in der Kritik

Rachid Ghannouchi, Führer der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien
Rachid Ghannouchi, Führer der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien, auf einer Pressekonferenz. | Bild: NDR

Wer in Tunis nach Antworten sucht, landet zwangsläufig auch bei Rachid Ghannouchi, Führer der islamistischen Ennahda-Partei. 22 Jahre hat er in London im Exil gelebt. Nach dem Sturz von Dikator Ben-Ali kehrte er nach Tunesien zurück. Ghannouchi gilt vielen als Hardliner - nach außen verbindlich, predigt er nach innen die Islamisierung Tunesiens. Auf die Frage nach seiner persönlichen Verantwortung und die seiner Partei, antwortet er mit Entrüstung: "Diese Anschuldigungen sind falsch. Die Ennahda-Partei verurteilt Gewalt. Sie ist selbst Opfer von Gewalt geworden. Wir weisen aufs schärfste diese Anschuldigungen zurück."

Die Regierung hat nichts unternommen

Aber sie sind Realität: Salafisten-Moscheen im Zentrum von Tunis. Sie sollen von Katar und Saudi Arabien finanziert worden sein. Hier wird der reine Islam gepredigt - und oftmals auch der Hass. Im Internet kursiert noch immer der Aufruf zum Mord am Politiker Chokri Belaid.

"Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, verspürte ich vor allem Wut“, sagt Basma Khalfaoui, "Wut über diesen Missbrauch einer Moschee, aber auch Wut auf diese Regierung, die nichts dagegen unternommen hat."

Journalisten beschuldigen Innenministerium

Journalist Zied el-Heni  in Tunis.
Journalist Zied el-Heni sagt, das tunesische Innenministerium, ist für den Tod von BelAid verantwortlich. | Bild: NDR

Wer in Tunis in diesen Tagen nach Antworten sucht, stößt auf viele Theorien. Journalist Zied el-Heni hat zusammen mit einem Kollegen eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass das Innenministerium für den Mord am Oppositionspolitiker Belaid verantwortlich ist. "Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass es eine Spezialeinheit im Innenministerium gibt. Sie führt eine Liste mit Leuten, die eliminiert werden sollen." Das Innenministerium war schon zu Zeiten des Diktators Ben Ali verhasstes Symbol des Polizeistaats, daran hat sich auch unter der Ennahda-Regierung nicht viel geändert.

Transitland für Waffen und Extremisten

Belaid, der ehemalige Chef der Partei "Bewegung der demokratischen Patrioten", galt als scharfer Kritiker der Ennahda-Regierung. Die Gewalt werde auch im Ausland geschürt, sagen sie in seiner Partei. Zu viele Waffen seien im Umlauf. Tunesien ist ein unsicheres Land geworden. "Die Existenz von so vielen Waffen in Tunesien ist doch die direkte Folge der Nato-Intervention in Lybien. Von dort kommt viel herüber. Wir waren immer gegen diese Intervention", sagt Mohamed Imour. Nun ist Tunesien auch zum Transitland für Waffen und Extremisten geworden.

"Wir sind als Bürger alle gleich"

Basma Khalfaoui Belaid am Grab ihres Mannes.
Basma Khalfaoui Belaid besucht das Grab ihres Mannes. | Bild: NDR

Während die Partei ihrem ermordeten Chef Belaid gedenkt, besucht  Basma Khalfaoui in einen ärmlichen Vorort von Tunis die Familie des Polizisten Lotfi Ezzar. Er kam bei gewalttätigen Demonstrationen ums Leben. Zwei Witwen sitzen sich gegenüber, Basma Khalfaoui und Afef Lakhder - beide Opfer eines Gewaltklimas, das für Tunesien so untypisch ist. Basma Khalfaoui  sieht in dem Tod beider Männer aber auch die Chance eines Wendepunkts: "Ich habe die Familie des Polizisten besucht, um meine Solidarität auszudrücken, insbesondere unter uns Frauen. Und gleichzeitig möchte ich eine Botschaft der Versöhnung aussenden. Wir sind als Bürger alle gleich."

Der letzte Weg in dieser Woche führt die Witwe zum Grab ihres Mannes. "Ich sehe in Ihnen das neue Tunesien", ruft ihr eine junge Frau zu. Für sie ist Basma Khalfaoui zu einer Ikone geworden.

Das Land ist tief gespalten

Aber nicht alle denken so, Tunesien ist tief gespalten. Das Grab des ermordeten Chokri Belaid wird weiter von Militär geschützt, man befürchtet, es könnte durch Extremisten verwüstet werden. In Tunesien kommen derzeit selbst die Toten nicht zur Ruhe.  

Autor: Stefan Schaaf, ARD-Studio Tunis

Stand: 22.04.2014 14:07 Uhr

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