So., 16.03.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Völkerwanderung: Millionen Chinesen siedeln um
Chashan liegt in den Bergen der Provinz Guizhou, Eine arme Region Chinas. Hier leben die, die vom rasanten Aufstieg des Landes nicht viel abbekommen haben. Zu ihnen gehört Bauer Long. Er schuftet wie seine Vorfahren in dünnen Schuhen im kalten Reisfeld.
Es sind seine letzten Wochen im Dorf, denn Bauer Long ist Teil eines gigantischen Umsiedlungsplans der Regierung. "Unser Dorf liegt sehr hoch, deswegen ist die Ernte nicht gut und wir verdienen nichts. Mit der Entwicklung der Städte kann das Dorf nicht mithalten - deswegen wollen wir in die Stadt“, sagt Long.
Drei Stunden Fußweg zur Schule
Longs Enkelin Anhui ist zehn Jahre alt und geht in die vierte Klasse. Schulen gibt es in jedem Landstrich Chinas, aber ihre Qualität ist sehr unterschiedlich. Je dörflicher und ärmer die Gegend, desto schlechter die Lehrer. Die Kinder, die hier groß werden, haben keine Chance mit ihren Altersgenossen aus den Städten mitzuhalten. In der Woche übernachtet Anhui in der Schule, nur am Wochenende kommen die Dorfkinder nach Hause. Drei Stunden Fußweg - nur die ersten Kilometer sind flach, dann geht es hinein in die Berge.
Die Straße ins Dorf ist so schlecht, dass man die Kinder nicht mal mit dem Motorrad abholen kann und Autos besitzen die Bauern nicht. Eine Strapaze, besonders die Kleinen haben zu kämpfen. Im Dorf warten Großmutter und Großvater. Ihre Eltern sieht Anhui nur einmal im Jahr zum Frühlingsfest, denn Vater und Mutter arbeiten Hunderte Kilometer entfernt in der Fabrik. So ergeht es den meisten Dorfkindern. Sie wachsen bei den Großeltern auf, weil die eigenen Eltern in den Bergen keine Arbeit finden. Ein hartes Leben. Fleisch auf dem Teller - das bedeutet hier auch schon mal Ratte.
Sechsstöckige Blocks für die Bauern
Arme Dörfer wie Chashan gibt es zu Hunderttausenden in China. Sie zu entwickeln lohnt sich nicht, sagt die Regierung und hat nun beschlossen, Bauern in Städte umzusiedeln. In der Region um Chashan allein zwei Millionen Menschen. Das ist eine Herausforderung für die Bezirksverwaltung. "Bisher sind nur die Jungen in die Städte gegangen, um Arbeit zu finden. Der Rest der Familie blieb im Dorf. Wir wollen jetzt alle in der Stadt ansiedeln, damit sie zusammen sein und das Leben dort kennenlernen können", sagt Li Shaoweivon der Bezirksverwaltung.
Das Ziel des Umzugs ist die Stadt Liping mt etwa 200.000 Einwohnern. Für chinesische Verhältnisse ein Nest, für die Bauern aus Chashan eine Großstadt. Überall wird gebaut - sechsstöckige Blocks für die Bauern mit kleinen Zweizimmerwohnungen. Die Unterkünfte sind stark subventioniert. 50.000 Renminbi, umgerechnet 6.000 Euro hat Bauer Long bezahlt. Das Geld hat er von seinen Söhnen, die in Südchina in der Fabrik arbeiten.
Viel haben er und seine Frau nicht. Das meiste wollen sie neu kaufen in der Stadt. Die Bauern sind aus der Perspektive der Wirtschaftsplaner ein ungehobener Schatz. Sie haben nichts und brauchen alles.
Probleme werden verdrängt
Die Probleme, die in der Stadt auf sie warten, verdrängen Bauer Long und seine Frau. Im Dorf müssen sie für kaum etwas zahlen. Wasser, Reis, Kohl - alles ist umsonst. In Liping wird das anders sein. Sie müssen sich ein neues Leben aufbauen und Geld verdienen. Doch das schreckt Bauer Long nicht ab: "Bei uns gibt es eine alte Redensart, dass sogar die Hunde in der Stadt leben wollen. Dann müssen wir doch von Menschen nicht reden." Das Haus im Dorf dürfen sie behalten - zur Aussaat und Ernte will Bauer Long zurückkommen. Gut 100 Kilomter muss er dann fahren.
Der neue Besitz schafft auch Streit. Jede Familie hat nur eine Wohnung bekommen - Long hat aber zwei Söhne. "Wir hatten schon viele Diskussionen über die Wohnung. Und wem sie gehört. Die Stimmung ist gerade nicht sehr harmonisch. Alle in unserer Familie wollen in die Stadt, aber der Platz reicht einfach nicht", sagt Bauer Long. Sie hoffen jetzt auf eine weitere Wohnung - dann wäre das Problem der Familie gelöst.
200 Millionen Chinesen sollen in den kommenden zwanzig Jahren in Städte umsiedeln. Das bedeutet Fortschritt und neue Chancen, aber auch das Ende dörflicher Kultur.
Autorin: Ariane Reimers, ARD-Studio Peking
Stand: 15.04.2014 10:44 Uhr
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