So., 19.04.15 | 19:20 Uhr
NDR Fernsehen
Afghanistan: Wenn Mädchen als Jungen aufwachsen
Radfahren, Fußballspielen, Einkaufen - ganz normal für die Jungs in Afghanistan. Auch Musawir ist dabei. Doch wer genau hinsieht, der merkt, Musawir ist ein Mädchen.
"Ich kann fahren, wohin immer ich will
"Ich kann fahren, wohin immer ich will. Es ist ganz einfach. Ich muss nur in die Pedale treten und los geht es", sagt Fatima. Klingt einfach, ist es aber nicht. Denn der Junge Musawir darf Fahrrad fahren, das Mädchen Fatima müsste meistens zu Hause sitzen. Dürfte auf gar keinen Fall mit den Freunden zum Fußball.
Fatima ist zehn Jahre. Sie muss lügen und täuschen.Sie darf mitspielen, weil sie ein Junge ist. Oder eben so tut. Die Kleidung öffnet die Tür in ein anderes Leben. Das hat sie schon verstanden: "Mädchen dürfen nicht tun, was sie wollen. Nicht einmal die erwachsenen Frauen sind frei. Ich kann raus, kann einkaufen. Kann mit dem Rad fahren und später arbeiten. Ich habe es einfacher, zur Schule zu gehen."
Bacha Posh - als Junge verkleidete Mädchen
Fatima - oder Musawir - ist nicht das einzige Mädchen, das als Junge aufwächst. Auf Dari heißen sie: Bacha Posh - als Junge verkleidete Mädchen. Sie sind Teil der afghanischen Kultur geworden. Jeder weiß, dass es sie gibt, aber alle schauen weg - bbwohl sie doch die Wahrheit kennen.
Auch Fatimas Vater flieht vor der Realität. Drei Töchter hat er, keinen Sohn. Wer nur Mädchen bekommt, hat versagt. So denkt er, so denken die Nachbarn. Ein Sohn bringt dagegen Ehre und Respekt. Mit einer Schummelei sind beide Seiten zufrieden. Ein falscher Sohn ist für alle besser als gar keiner: "Ja, sie ist mein Sohn. So sehe ich sie. Ich habe mir so einen Sohn gewünscht. Einen Jungen, der mir helfen kann. Fatima ist Musawir. Und Musawir in ein Junge. Hoffentlich hilft sie mir so lange, bis ich einen richtigen Sohn bekomme. Dann darf sie auch gern ein Mädchen sein", sagt Vater Yami Osmani.
Doch ab Fatima das überhaupt will? Denn ein Mädchen zu sein, bedeutet auch, all die Freiheiten zu verlieren. Fatima träumt nämlich davon Autofahren zu dürfen. Ob sie das als Frau schafft, ist alles andere als sicher.
Südasien-Meisterin im Kong Fu hat sich als Junge verkleidet
Marya konnte ein wenig Freiheit retten. Sie ist heute eine starke Frau. Auch die wuchs als Junge auf. Wurde Spitzensportlerin. Reiste durch die Welt. Marya ist Südasien-Meisterin im Kong Fu. Sie trainiert die Jungs und die tun, was sie sagt. Marya ist nur diese starke Frau, weil sie früher als Junge lebte. Auch für sie galt: Haare kurz und Jungsklamotten anziehen. Und schon war das Leben viel einfacher.
"Unsere Kultur in Afghanistan macht uns Probleme. Uns Frauen machen sie klein. Ich wollte mich selbst schützen. Deswegen kleidete ich mich als Junge. Ich meine, sogar die gebildeten Leute haben Vorurteile.Das trifft Sportlerinnen wie mich erst recht Ich zog also immer weite Klamotten an, aamit keinem etwas auffällt. Denn wenn jemand was gemerkt hätte, hätte es Ärger gegeben", erzählt Marya.
Marya liebt Sport, aber für ein afghanisches Mädchen bleibt das oft nur ein Traum: "Ich konnte zur Schule gehen. Konnte aber auch Sport machen.Die meisten Mädchen schaffen das nie. Heute arbeite ich, bin Chefin in einem Sportclub. Ich konnte ins Ausland reisen und Medaillen gewinnen. Das alles ging nur, weil ich als Junge gelebt habe."
Marya ist 23, hat inzwischen geheiratet, bekam einen Sohn. Nun lebt sie als Frau. Sie sagt ihr Mann beschützt sie. Aber: Sie will nicht mit uns nach draußen. Eine Frau, begleitet von einem Kamerateam aus dem Westen, das geht nicht.
Fatima verdrängt, dass sie ein Mädchen ist
Fatima verwandelt sich jeden Morgen. Die Haare versteckt sie und schnell ist sie ein Junge. Wie lange geht das noch gut? Fatima hätte nichts dagegen, eine Frau zu sein. Noch ein paar Jahre kann die Familie das Geheimnis wahren. Aber dann? Es wird sich kaum verheimlichen lassen, dass Fatima ein Mädchen ist.
Wenn die Pubertät beginnt, endet eben doch die Freiheit - meistens. Noch sieben Jahre wolle er warten, sagt der Vater. Seine Frau, Huma Osmani, zweifelt: "Ich mag es nicht so richtig. Ich habe ihr auch nicht mehr die Haare geschnitten. Damit sie sich langsam daran gewöhnt, ein Mädchen zu sein. Ich habe versucht, ihr Mädchenkleider anzuziehen. Das lehnt sie ab. Sie möchte der Junge sein."
Scheint logisch. Fatima ist glücklich. Sie verdrängt, dass sie ein Mädchen ist. Fatima träumt davon, Ingenieur zu werden - als Mann. Aber sie muss schon lügen und täuschen, wenn sie nur das Brot für das Abendessen besorgt. Denn einkaufen dürfen in Afghanistan nur die Jungs.
Autor: Gábor Halász, ARD-Studio Neu-Delhi
Stand: 19.04.2015 20:28 Uhr
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