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Türkei: Was es heißt, heute Armenier zu sein

Türkei: Was es heißt, heute Armenier zu sein | Bild: ARD

Das Ehepaar Balikci betet in der St. Giragos-Kathedrale von Diyarbakir. Sie sind Armenier in der Türkei - 100 Jahre nach Ereignissen, die "Massenmord" oder "Genozid" genannt werden. Auch die Kathedrale fiel ihnen damals zum Opfer.

"Noch immer werden Armenier mit Schimpfworten bedacht"

Das Ehepaar Balikci
Das Ehepaar Balikci kämpft sein vier Jahren für Gerechtigkeit. | Bild: NDR

Nach Jahrzehnten als Ruine wurde die Kirche mit Spenden vor wenigen Jahren prachtvoll wieder errichtet. Auch wenn es hier praktisch keine armenische Gemeinde mehr gibt: Dieser Sakralbau macht Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Genau daran aber können die Balikcis nicht recht glauben: "Natürlich ist es gut und schön, dass der Staat auf uns zugeht, uns historische Stätten zurückgibt. Doch: Noch immer werden Armenier mit Schimpfworten bedacht. Für viele Türken ist es zum Beispiel ein Symbol der Gefahr, von einem Armenier zu träumen", sagt Ani Balikci.

Ehepaar Balikci verlor ihren Sohn

Sevag Balikci
Sevag Balikci wurde von einem türkischen Nationalisten erschossen. | Bild: NDR

Knapp 100.000 Armenier leben heute in der Türkei - statt Millionen wie vor 1915. Familie Balikci gehört zu einer kleinen Minderheit im Lande. Auch 100 Jahre nach der, wie sie und ihre Glaubensbrüder sagen, "Katastrophe", bestimmt ihr Armenier-Sein ihr persönliches Schicksal: Vor vier Jahren wird ihr Sohn Sevag, damals wehrpflichtiger Soldat der türkischen Armee, von einem Kameraden mit einem Militär-Gewehr  erschossen - genau am Jahrestag der Katastrophe.

Der Täter ist als Nationalist und fanatisch-religiös bekannt. Man verurteilt ihn zu mehr als vier Jahren Gefängnis. Doch dann hebt das Gericht das Urteil auf - wegen Formfehlern. Nun wird erneut verhandelt. "Damals sollen Worte gefallen sein wie, wenn es einen Krieg mit Armenien geben sollte, wärst du der Erste, den wir erschießen!", erzählt Ani Balikci

Vier Jahre dauert der einsame Kampf von Sevags Eltern vor Militärgerichten nun. Der Staatsanwalt plädiert weiter auf Unfall. Doch: Gemeinsam mit ihrem Anwalt wollen die Balikcis die Tötungsabsicht des Täters nachweisen: "Wir haben keine Zweifel, dass es sich um eine vorsätzliche Tötung handelt. Die Tat ist am 24. April, dem Jahrestag des Völkermords passiert. Wir kennen den nationalistischen Hintergrund des Täters. Vor den Schüssen hat es in der Kaserne hitzige Diskussionen über Religion und Armenier gegeben!", sagt Ismail Cem Halavurt, der Anwalt der Familie Balikci. "Ich weiß nicht, ob es am Ende Gerechtigkeit geben wird. Ich habe Zweifel!", sagt Garbis Balikci.

Stepan - ein sogenannter Krypto-Armenier

Musikers Mustafa oder Stepan Ilhan
Musiker Mustafa oder Stepan Ilhan hat armenische Wurzeln. | Bild: NDR

Das tragische Schicksal von Sevag Balikci ist das Thema eines Songs des Musikers Mustafa oder Stepan Ilhan. Die doppelte Namensgebung ist kein Zufall: Mustafa oder Stepan ist als Muslim aufgewachsen. Schon in seiner Kindheit hat er erfahren, dass seine Vorfahren Armenier waren und so kam das Christentum in sein Leben. Seither feiert er islamische und christliche Feste.

Stepan ist ein sogenannter Krypto-Armenier. Osmanische Soldaten zwangskonvertierten seine Ur- und Großeltern vor 100 Jahren zum Islam. Nur so konnten sie überleben. Ein Schicksal, das in der Türkei Zehntausende teilen. Die meisten von ihnen wissen noch nicht einmal von ihrer eigenen armenischen Familien-Geschichte.

"Ich lebe mein Armenier-, mein Andersssein wie praktisch alle Armenier in der Türkei nur nach innen, in der Familie. Nach außen nehmen wir Teil an der allgemeinen Kultur. In gewisser Weise verlangt die türkische Gesellschaft, dass du öffentlich so lebst wie alle anderen", erklärt Stepan Ilhan.

Armenisches Leben in Istanbul

Priester Tatul Anusyan
Priester Tatul Anusyan arbeitet in Istanbul | Bild: NDR

Heute findet sichtbares armenisches Leben in der Türkei nicht mehr in den einstigen Zentren, in den osttürkischen Städten Diyarbakir oder Van statt, wo Hundertausende ihre Heimat hatten, sondern vor allem am Bosporus. In der 15-Millionen-Stadt Istanbul leben noch rund 70.000 Armenier - sie haben einen türkischen Pass. Etwa 30.000 weitere sind als Gastarbeiter hinzugekommen. An Feiertagen wie Ostern sind die armenischen Kirchen Istanbuls deshalb gut besucht.

Priester Tatul Anusyan vermeidet in seiner Predigt auffallend jedes Wort zu den Ereignissen von  vor 100 Jahren - er will auf keinen Fall provozieren. "Der 100. Jahrestag der Katastrophe hat natürlich große symbolische Bedeutung. Man spürt, dass in diesem Jahr die Aktivitäten größer und die Stimmen allgemein lauter sind…!“

Unauffällig leben

Leben im Land der Täter: Familie Balikci weiß, was das heißt: Sie bemühen sich unauffällig zu leben. Unter ihren Freunden  befinden sich viele Muslime. "Wir wollen hier in Frieden leben. Wir wollen besser miteinander auskommen! Wir wollen keine Diskriminierungen! Das ist alles, was wir uns wünschen", erklärt Garbis Balikci.

Doch das bringt ihren einzigen Sohn auch nicht zurück. Die Türkei, sie steht in der nächsten Woche vor einem vor einem schwierigen Jubiläum. Auch nach einem Jahrhundert kommt Geschichte eben nicht einfach so zur Ruhe…

Autor: Michael Schramm, ARD-Studio Istanbul

Stand: 19.04.2015 20:28 Uhr

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