Mo., 17.09.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Niederlande: Hungersnot im Paradies
Jenseits von Afrika – so sieht es hier aus. Herden wilder Pferde grasen hier – gewaltige Heckrinder. Doch dieses Afrika liegt in den Niederlanden – wild und unberührt. Das Naturschutzgebiet Oostvaarderplassen – nur 30 Kilometer von Amsterdam. Mitten drin also: in der Zivilisation.
Eine Naturidylle – für Menschen unzugänglich
Ihn kann man um seinen Arbeitsplatz nur beneiden. Wildhüter Hans-Erik Kuypers unternimmt eine seiner täglichen Safaris. "Manchmal komme ich zu spät nach Hause, weil mir die Tiere im Weg stehen. Die Rinder gehen meistens weg – aber die Pferde bleiben immer genau auf dem Weg stehen. Nein, Spaß beiseite: Es sind so schöne Bilder, Eindrücke, die Tiere zu sehen. Wir sind hier in einem Polder, das heißt, das Land hier wurde künstlich gewonnen. Und das da dann so eine Natur entstanden ist, so eine Wildnis – dass ist schon ein Spezialfall."
Vor 50 Jahren war das alles hier noch Meeresgrund, erklärt der Wildhüter. Doch die vollständige Trockenlegung auf diesen 5.000 Hektar misslang – und es entstand ein Feuchtgebiet mit zehntausenden Vögeln.
"In den 80er Jahren, Anfang der 90er haben wir hier dann auch ein paar Dutzend große Grasfresser ausgesetzt – Wildpferde, Heckrinder und Edelhirsche. Sonst wäre hier in kürzester Zeit alles zugewachsen: Mit Bäumen und Sträuchern", so Hans-Erik Kuypers.
Und diese Grasfresser schienen sich wohl fühlen. Aus Dutzenden wurden im Lauf der Jahre hunderte – und zuletzt über 5000. Eine Naturidylle – für Menschen unzugänglich, abgeschlossen hinter einem Zaun. Doch auch das ist Oostvaardersplassen: Abgemagerte Pferde, verhungerte Hirsche. Mehrere tausend Tiere starben im vergangenen, strengen Winter. Tierschützer begannen trotz Verbots zu füttern. Tausende Protestierten – Oostvaardersplassen sei ein Tiergefängnis.
Für einige staatlich organisierte Tierquälerei
"Diese Tiere haben keine Stimme. Sie sind nicht frei, sondern eingesperrt", sagt der Tierschützer Eddy Nagel. Auch Eddy Nagel kämpft gegen diese Art Naturschutz. Gemeinsam mit anderen Aktivisten hat er im Winter heimlich gefüttert. Aufpassen müssen sie: Wegen der aufgeheizten Stimmung kontrolliert die Polizei, die Bußgelder betragen schnell ein paar Hundert Euro. Doch sie finden, das sei es wert – um den Tieren zu helfen. "Schau da, das ist ein Abszess, der müsste eigentlich behandelt werden – aber tja...", erzählt Eddy Nagel. Dass sich niemand um die Türe kümmert – für sie ist das nicht die Rückkehr der Natur – sondern staatlich organisierte Tierquälerei.
"Das Gras hier reicht einfach nicht. Den Sommer werden sie überleben. Aber wie sieht's im Winter aus? In einem Monat, Mitte Oktober, wächst kein Gras mehr. Was machen die Tiere dann? Dezember, Januar, Februar, März, April – da gibt es nichts für sie", so Eddy Nagel.
Ist das alles also eine große Schnapsidee – Natur erschaffen zu wollen, in einem der dicht besiedeltsten Länder Europas? Das man auf das Naturschutzgebiet nun so genau schaut, liegt auch an diesen Filmemachern aus Amsterdam. Ihren Film "Die neue Wildnis" haben Millionen Niederländer gesehen. Der Film zeigt überbordende Natur – aber auch das Leid und Sterben, dass bei wilden Tieren dazu gehört. Die Brutalität eines jagenden Fuchses. Und das hässliche Ende auch des edelsten Tieres.
Künftig sollen im Notfall Tiere geschossen werden – Füttern aber bleibt tabu
"Der Stärkste überlebt – die Schwachen sterben. Aber wir haben gemerkt, dass das viele Niederländer nicht mehr ertragen können. Wir sehen zunehmend alles aus der Perspektive von Haustieren. So etwas ist zu schockierend", sagt Ton Okkerse, Produzent De Nieuwe Wildernis.. Nicht hart genug im Nehmen also? Diesen Vorwurf akzeptieren die Tierschützer nicht. Per Facebook-Live berichten sie, wie es den Tieren geht. Manchmal sehr emotional. "Seht Euch diesen Hirsch an, das arme Tier, hat noch im Sterben gestrampelt. Gott verdammt", sagt eine Aktivistin.
Manche finden diese Form der Tierliebe naiv – die Aktivisten aber wollen Aufmerksamkeit und Veränderungen. "Wir wollen, dass Natur Natur bleibt. Aber wenn die Tiere hinter einem Zaun stehen, dann ist es doch eher ein Naturpark in Gefangenschaft. Und dann muss auch für sie gesorgt werden. Und das müssen die Behörden tun – nicht heimlich wir", findet eine Aktivistin.
Die Polizei jedenfalls lässt auch heute nicht lange auf sich warten. Gleich drei Streifenwagen und ein Motorrad: Niemand soll die neue Wildnis betreten, niemand die Tiere füttern. Die Polizeipräsenz zeigt, wie heiß das Thema ist. Oostvaarderplassen – mittlerweile hat die niederländische Politik erste Veränderungen beschlossen: Künftig sollen im Notfall Tiere geschossen werden – Füttern aber bleibt tabu.
Zukunft noch unklar
"Wenn wir füttern, sorgen wir für noch mehr Nachkommen. Und dann haben wir noch mehr Tiere. Und die haben dann wieder Nachkommen. Und am Ende sind es so viele, dass das ganze Gebiet darunter (leidet). Das geht einfach nicht", so Jop Fackeldey, Provinz Flevoland. Die Natur ganz nah am Ballungsgebiet: Wildhüter Kuypers ist froh, dass jetzt etwas Klarheit geschaffen wurde. Auch wenn er nun – letztlich wegen der Proteste von Tierschützern – Tiere töten soll. "Ich liebe Tiere und die Natur. Und die Menschen, die diesen Winter gegen uns demonstriert haben und es noch immer tun, die lieben sicher auch Tiere. Das verbindet uns: Aber wir haben eine vollkommen verschiedene Vorstellung davon, was ein natürlicher Prozess ist. In der Natur werden Tiere geboren – aber sie sterben eben auch", sagt Jop Fackeldey.
Die neue Wildnis – ganz so einfach ist es scheinbar doch nicht, in einer Welt der Massentierhaltung – die gleichzeitig kein Tierleid sehen will. Wildhüter Kuypers weiß, die Diskussionen um Oostvaarderplassen werden wohl weiter gehen – mit einer Zukunft irgendwo zwischen naturbelassenem – und großem Tierpark.
Autor: Markus Preiß/ARD Studio Brüssel
Stand: 28.08.2019 04:31 Uhr
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