So., 15.11.20 | 19:20 Uhr
ARTE
Niederlande: Der Kampf ums Wasser
Der Traum vom Landleben – Idylle im Grünen. Als dieser alte Bauernhof von 1864 in Spancha, in Friesland, zum Verkauf stand, war für Pieter und Ellen Dekker klar: raus aus der Stadt. Frische Luft, wenige Menschen, die Jahreszeiten wieder erleben – schon allein der Kinder wegen – Lebensmittel selbst anbauen. 2005 haben sie ihn gekauft.
„Das ist eigentlich unser Traumhaus. Hier haben wir einen großen Gemüsegarten, Obstgarten, Schafe, Platz. Was will man mehr? Hier kann man super leben, ja! Aber seit 2008 ist es immer schlechter geworden", erzählt Pieter und Ellen fügt hinzu: "Unser Traum hat Risse bekommen.“ „Dieser Ort ist immer noch ein Sehnsuchtsort, aber das Haus können wir abschreiben. Unbewohnbar!“, sagt ihr Mann dazu. „Laut Prognose wird es irgendwann in den kommenden 3 Jahren einstürzen", so Ellen weiter. Das Problem der Dekkers: Der Hof versinkt und mit ihm das Land drum herum.
Folgen des Klimawandels
Die Niederlande sind von Entwässerungskanälen durchzogen. Für die Landwirtschaft wird der Grundwasserspiegel immer wieder gesenkt, damit Kühe keine nassen Hufe bekommen und die schweren Traktoren nicht versinken. Die vergangenen Dürre-Sommer verstärken das Phänomen: Die trocknenden Moor-Böden setzen große Mengen CO2 frei. Das wiederum beschleunigt den Klimawandel – ein Teufelskreis.
Für Häuser wie das von Familie Dekker bedeutet das: Das Fundament wird morsch. Wie fast überall in den Niederlanden stehen die Häuser auf sandigem oder moorigem Untergrund – stabilisiert von dicken Holzbalken. Fällt der Wasserspiegel, trocknen die Balken langsam aus. Durch Kontakt mit Sauerstoff beginnen sie zu faulen, bis sie das Gewicht nicht mehr tragen können.
Bei Familie Dekker begann alles mit einer klemmenden Türe. Mittlerweile ist das Wohnhaus um ganze 12 Zentimeter abgesackt. "Hier kann man ganz gut sehen, was passiert, wenn der Untergrund wegsackt. Die Stützen dieser Mauer sind weggerottet. Die Steine sind lose. Schau, die kann man hier so rausziehen", sagt Hausbesitzer, Pieter. Schaden: mindestens eine halbe Million Euro.
Ellen erzählt, wie die Familie von den schweren Schäden erfahren hat: "Es beginnt sehr langsam. Man entdeckt einen Riss und denkt: Naja, den müsste man mal reparieren. Dann kommt noch einer dazu und man denkt so: Das ist komisch. Naja und nach dem trockenen Sommer 2018 knackte und krachte es im Gebälk, das Holz barst, sehr laut. Dann haben wir Kontakt aufgenommen – mit der Gemeinde, der Provinz und der Wasserbehörde."
Doch die können den Dekkers nicht helfen und versichern kann man solche Schäden auch nicht. In den Niederlanden sind die Bewohner selbst für das Fundament ihres Eigentums verantwortlich und hilflos gegen handbreite Risse und schiefe Wände. Die Tage des alten Hofes sind gezählt.
Eigentümer müssen sich selbst kümmern
In Rotterdam will Edwin van der Heide seinem Haus in der Eerste Pijnackerstraat dieses Schicksal ersparen. Auch er war durch klemmende Fenster massiv beunruhigt. Er rief einen Gutachter. Mehrere Wochen lang legte eine Spezialfirma dafür unter seinem Haus die Jahrhunderte alten Eichen-Stützpfähle frei – Riesen-Aufwand, erschreckendes Ergebnis. "Das muss alles gestützt werden, sonst sackt es komplett runter", sagt Fundamentspezialist, Joep Dingemans.
Edwin van der Heide hätte sich früher Klarheit gewünscht: "Es wäre sehr hilfreich gewesen, den Zustand des Fundaments vor dem Hauskauf zu kennen und damit auch die Risiken besser einzuschätzen. Das wurde bislang immer ignoriert." Mit teuren Folgen. Um das Haus zu stabilisieren, müssen jetzt Betonpfeiler und eine neue Bodenplatte gegossen werden. Eine Art Betontisch, der das Haus künftig tragen soll. 100.000 Euro investiert Edwin van der Heide in sein neues Fundament: "Das Konto ist leer, aber ich bin sehr froh, dass ich das in ein paar Monaten hinter mir habe und ich nicht jahrelang mit Angst und Ungewissheit leben muss."
Auch seine Nachbarn machen mit, damit sich die Arbeit lohnt. Und: Geteiltes Leid ist halbes Leid. „Die Versicherungen zahlen solche Schäden nicht, denn es ist eine Frage der Verantwortung. Der Besitzer muss das Haus und das Fundament in Schuss halten, aber das schwierige ist: den Grundwasserspiegel kann man ja nicht selbst beeinflussen", erzählt Dingemans.
Label soll in Zukunft warnen
Abhilfe soll ein neues Label schaffen. Ab Januar muss, ähnlich dem deutschen Energie-Ausweis, jeder Hausverkäufer ein Gutachten zum Fundament vorlegen können. "Dieses Label, das jetzt eingeführt wird, soll möglichen Hauskäufern zeigen, welche Risiken sich unter den Immobilien befinden. Bei 'Stufe Rot' weiß man schon sicher, dass sehr viel Arbeit auf einen zukommt. Die meisten Häuser in den Niederlanden werden 'Stufe Orange' sein: Sie stehen noch sicher, aber sind mit großem Risiko behaftet", erklärt Fundamentspezialist, Dingemans.
Experten und Stadtplaner rechnen jetzt schon mit bis zu 400.000 betroffenen Immobilien im ganzen Land. Bis zu vier Millionen Häuser stehen auf Holzpfählen. Auch Familie Dekker hat irgendwann, als Wegsehen nicht mehr geholfen hat, einen Gutachter auf den Hof kommen lassen. "Bei uns war das Ergebnis: dunkelrot!", erzählt Ellen Dekker und ihr Mann fügt hinzu: "Das Haus wird in den kommenden Jahren einstürzen." Und die Dekkers quasi ein Opfer des Klimawandels.
Ellen sieht die Zukunft realistisch: "Wenn uns niemand hilft, dann werden wir hier ein paar Wohncontainer aufstellen müssen. Und dann schauen wir mal." Am Ende haben die Niederlande zu wenig Wasser statt zu viel.
Autorin: Gudrun Engel/ARD Studio Brüssel
Stand: 15.11.2020 21:07 Uhr
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