Mo., 24.07.17 | 05:00 Uhr
Das Erste
Niederlande: Meine 92-jährige Mitbewohnerin
Vor einem Jahr hat der Student Sores Duman ein Zimmer in dieser Wohngemeinschaft gefunden. Eine WG mit ungewöhnlichen Zimmernachbarn.
Sores: "Tach Marty". Marty Weulink, 92 Jahre alt und eine gute Freundin. Sie lebt seit zehn Jahren im Altenheim und hat zwei große Leidenschaften: alte Puppen und den jungen Sores.
"Ich habe Sores adoptiert als meinen Enkel", sagt Marty. "Ja! Das kriegen wir gut hin soweit, oder" fragt Sores. "Das ist sehr gut", erwidert Marty.
Marty ist topfit – körperlich und geistig. Ihre historischen Puppen restauriert sie noch immer selbst. Und Sores zeigt ihr am I-Pad, wie sie ihre Lieblingsstücke fotografieren und festhalten kann.
Freundschaft zwischen Studenten und Senioren
Als Sores vor einem Jahr ins Altenheim zog, empfand er vor allem Mitleid für die Alten. Das hat sich grundlegend geändert – auch wegen ihr. "Ich sehe unsere Freundschaft nicht irgendwie anders. Wir verstehen uns super, weil wir einander auf Augenhöhe begegnen, und das macht vieles einfacher. Marty inspiriert mich. Trotz ihres Alters will sie noch alles lernen und macht einfach das Beste aus ihrem Leben. Das finde ich super!"
Heute gibt es Zuwachs für die Studenten-Senioren-WG. Jolieke van der Wals zieht in ihre erste eigene Wohnung. Sie ist jetzt eine der sechs Studenten, die im Altenheim leben. Tür an Tür mit 160 Senioren zwischen 70 und 104.
"Zuerst dachte ich – verrückt! Die Nachbarin hier, der Nachbar dort, alles alte Menschen. Aber das kann ja auch ganz gesellig werden", sagt Jolieke.
Ein holländisches Studentenzimmer für im Schnitt 400 Euro hätte sich Jolieke nur schwer leisten können. Das Zimmer im Altenheim ist möbliert und kostet keine Miete. Aber als Gegenleistung muss Jolieke wie die anderen Studenten 30 Stunden im Monat mit den Senioren verbringen.
Begegnung auf Augenhöhe
Viel Zeit zum Ankommen hat sie nicht. Der erste Einsatz – noch am gleichen Tag. Studenten und Bewohner treffen sich beim Abendbrot. Jolieke will erste Kontakte knüpfen. Doch zunächst gibt es eine Lektion in Sachen Tischmanieren.
"Soll ich das für Sie aufmachen", fragt Jolieke. Das muss sie nicht. "Sie sagen, dass sie das selbst können. Da haben sie natürlich auch Recht. Ich muss das nicht tun".
Taktgefühl, den richtigen Ton treffen – gar nicht so einfach. Mitbewohner Sores hat da deutlich mehr Erfahrung. Nach einem Jahr im Altenheim, weiß er, was die Senioren wirklich wissen wollen.
"Sie interessieren sich sehr für unser Liebesleben, unser Sexleben, das Studentenleben. Jetzt nicht im Detail, aber sie wollen schon wissen, wer es mit wem tut."
Dialog zwischen Alt und Jung
Die Hansestadt Deventer an der Ijssel 100.000 Einwohner, davon 26.000 Studenten. Doch schon im Stadtkern zeigt sich: Auch die Niederlande kämpfen mit einer alternden Gesellschaft. Die Holländer sprechen vom "Grijze Druk" dem "Grauen Druck". Neue Konzepte müssen her. Das Leben im Alter attraktiv machen – gerade auch im Pflegeheim, dafür kämpft sie: Gea Sijpkes. Die Direktorin hat die Studenten ins Haus geholt. Und will damit vor allem eins erreichen: ein neuen Dialog zwischen Alt und Jung.
"Unsere Kinder sind ein bisschen wie Prinzen und Prinzessinnen aufgewachsen. Sie haben nicht gelernt, sich um ältere Menschen zu kümmern. Doch wir müssen unsere Sicht auf die Alten ändern. Dass sie sehr wohl einen großen Nutzen für unsere Gesellschaft haben. Und das die Beziehung zu ihnen wertvoll ist. Das sehen wir jeden Tag bei uns", sagt Gea Sijpkes.
Jolieke lebt den Traum von vielen ihrer Generation: Sie studiert an der Niederländischen Musical-Akademie in benachbarten Arnheim. Und träumt von einer Karriere auf den Brettern, die die Welt bedeuten.
Senioren aus der Reserve locken
Aber wenn die Uni vorbei ist, erlebt Jolieke im Altenheim auch eine andere Seite: Was es heißt mit alten und pflegebedürftigen Menschen Tür an Tür zu leben. Mit einer der Mitbewohnerinnen hat sie sich näher angefreundet. Elli Wewer ist 73, hellwach im Kopf – nur die Beine wollen schon lange nicht mehr. "Ich sitze meistens in meinem Zimmer, oder draußen. Ja, so habe ich mein Leben hier verbracht, zehn Jahre schon", erzählt Elli Wewer. Aber Jolieke hat es geschafft, Elli aus der Reserve zu locken. Neulich kam die Dame sogar mit zu einer Studenten-Party.
"Da haben wir das Trinkspiel Bierpong gespielt. Elli stand an einem Ende des Tisches und ein Student am anderen Ende. Und dann musste sie Bälle in Becher werfen. Da warst du richtig gut drin, ne", fragt Jolieke.
"Ja. Ich habe schön den Ball in den Becher geworfen. Und der Student, der da stand, musste das dann austrinken – Es war nur so ein kleiner Schnaps. Aber der wollte das nicht, der hatte keine Lust mehr. Hatte anscheinend schon zu viel getrunken", erzählt Elli Wewer.
Anarchie im Altenheim
Ein Höhepunkt des Jahres für alle WG-Bewohner: Das Oranje-Fest zum Königstag. Die Idee zur Party im Altenheim hatten die Studenten selbst. Sie wollten ein bisschen WG-Atmosphäre und auch ein wenig Anarchie in den Heimalltag bringen.
"Meine Sichtweise auf Ältere hat sich sehr verändert. Früher dachte ich vor allem an ihre Einschränkungen und jetzt sehe ich ihre Möglichkeiten und die Dinge, die sie sehr wohl tun können", berichtet Sores.
Jolieke wohnt jetzt seit ein paar Wochen im Altenheim. Sie und ihre Mitbewohner haben verstanden: Es sind manchmal die kleinen Ideen, die Großes bewegen.
Autor: Norbert Lübbers
Stand: 16.07.2019 08:20 Uhr
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