So., 17.03.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Nordmazedonien: Immer mehr Menschen wandern aus
Am Busbahnhof in der Hauptstadt Nordmazedoniens drängen sich Menschen mit Koffern und Taschen, gepackt für ein neues Leben im Ausland. Väter küssen ein letztes Mal ihre Kinder, bevor sie in die Busse nach Norden steigen, die sie in die reiche EU bringen. Immer mehr Menschen wollen ihr Land verlassen und auswandern. Niedrige Löhne, Korruption und Perspektivlosigkeit treiben sie zum Arbeiten ins Ausland. Deutschland ist ein besonders begehrtes Ziel. 222.000 Menschen mit mazedonischem Migrationshintergrund leben derzeit in der Bundesrepublik, 68.000 mehr als noch vor zwei Jahren. Laut deutscher Botschaft in Nordmazedonien ist auch die Zahl der Visa-Anträge von 2021 auf 2022 um ein Drittel gestiegen. Für die wirtschaftliche und demographische Situation in dem Balkanstaat ist diese Entwicklung desaströs. Der Weltspiegel porträtiert eine junge Frau, deren kleine Tochter monatelang ohne ihren Vater auskommen muss, zeigt zerrissene Familien, verödete Dörfer und eine Schule, der nur noch fünf Schüler geblieben sind. Bereits jetzt leben 700.000 Mazedonier im Ausland, das ist rund ein Drittel der gesamten Bevölkerung.
Wiedersehen nach acht Monaten
Sofija wartet auf ihren Papa. Sie wartet seit acht Monaten, dass er wieder nach Hause kommt. "Ein Flugzeug! Da oben, da in dem Flugzeug ist mein Papa!!! Tschüss Flugzeug." In ein paar Stunden wird sie ihren Papa wieder in den Arm nehmen können. Denn pünktlich zu ihrem vierten Geburtstag will er heute Abend zu Hause sein. Die Mutter erzieht die Kleine mit Hilfe der Großeltern allein. Sofijas Vater ist in Deutschland, Geld verdienen. Dann müssen sie los zum Flughafen.
Sofija kann den Besuch kaum erwarten. Immer mehr Menschen machen es wie ihr Vater, suchen ihr Glück woanders. In der reichen EU. Hier werden die Pläne Realität, am Busbahnhof in Skopje. Oft mit schmerzhaften Abschieden verbunden. Die Männer fahren, ihre Familien bleiben zurück. "Ja ich gehe Arbeiten. Ich fliehe aus diesem stinkenden Land von Dieben. Hier gibt es kein Brot mehr für uns…" Gibt es hier keine Arbeit? "Keine Arbeit, kein Brot, kein Leben, nichts." Besonders beliebt bei den Ausreisenden – Deutschland. Die Zahl der deutschen Visa-Anträge ist laut deutscher Botschaft in nur einem Jahr um mehr als ein Drittel gestiegen: von 6.000 auf 9.500. Inzwischen leben fast 700.000 Mazedonier, rund ein Drittel der Bevölkerung, im Ausland. Weltweit ist Nordmazedonien eines der Länder mit der höchsten Auswanderungsrate.
Die Dörfer sterben aus
Sofija und ihre Mutter sind am Flughafen angekommen. Der Vater arbeitet in Friedrichshafen auf einer Baustelle, kommt mit der Maschine aus Basel. Dann endlich… Morgen zu Sofijas viertem Geburtstag soll es ein großes Fest geben. Sofija hat ihren Papa nun 10 Tage lang bei sich, dann wieder monatelang nicht. So wie ihr geht es Kindern im ganzen Land. Circa hundert Kilometer von Skopje entfernt: Dieses kleine Dorf stirbt langsam aus.
Besonders deutlich markt man das in der Schule. Hier werden nur noch fünf Kinder unterrichtet. Sie sind aus allen Klassenstufen zusammengewürfelt, das jüngste fünf, das älteste zehn Jahre alt. Der Hausmeister zeigt uns das zweite Klassenzimmer, vor einigen Jahren fand hier noch Unterricht statt. "Die Zahl der Schüler geht jedes Jahr zurück, weil die Menschen nach Italien oder Deutschland gehen. Erst die Väter, dann kommen sie nach ein paar Monaten zurück und holen die Frauen und Kinder. Sie melden die Kinder von der Schule ab und die ganze Familie ist weg. Ciao."
Für die Zukunft des Landes, für Wirtschaft und Stabilität, ist diese Entwicklung verheerend. Der Hausmeister beobachtet, wie sich sein Dorf verändert. Jedes schöne Haus im Dorf gehöre einer Familie aus dem Ausland, erzählt er uns. "Ich schwöre, wenn ich jünger wäre, würde ich auch gehen. Was soll ich denn hier, hier sind ja nur noch Rentner. Alles ist ausgestorben. Selbst wenn man hier nackt rumläuft, sieht einen keiner." Laut Prognosen schrumpft die Gesellschaft immer weiter, das Vertrauen in die Politik ist gering, der EU-Beitritt immer noch in weiter Ferne. Frustration im ganzen Land.
Keine Zukunft mehr in Nordmazedonien
Bei Sofija zuhause. Die ersten Stunden mit ihrem Papa – für die Kleine ist das etwas ganz Besonderes. Sinisha zeigt uns Bilder aus Deutschland. 2.300 Euro verdient er dort auf der Baustelle. In Skopje verdient Anna als Buchhalterin in Vollzeit gerade mal 380 Euro. Doch der Verdienst ist nicht der einzige Unterschied findet er. "Der Unterschied ist, dass in Deutschland Gesetze eingehalten werden, alles hat seine Ordnung, während es hier so viele Schlupflöcher gibt."
Nordmazedonien gilt als eines der korruptesten Länder Europas. Ständig melden sich Freunde und Bekannte bei Sinisha, fragen ihn nach Deutschland. "Anna sagt schon immer, was machst du denn die ganze Zeit mit dem Telefon, du telefonierst ununterbrochen." "Ja, es klingelt nonstop. Sie fragen ihn, ob sie auch gehen sollen."
Es ist Abend. Die beiden haben ihren gesamten Freundeskreis zu Sofijas Geburtstag eingeladen. In Nordmazedonien feiert man laut – und spät. Auch wenn das Geburtstagskind erst vier ist. Sinisha träumt davon, eines Tages wieder hier zu leben – als Familie. Doch ob Nordmazedonien seiner Tochter eine Zukunft bieten kann, daran hat er Zweifel.
Autorin: Anna Tillack, ARD-Studio Wien
Stand: 18.03.2024 10:34 Uhr
Kommentare