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Westbank: Kriegsrecht wirkt auch hier

Westbank: Kriegsrecht wirkt auch hier  | Bild: picture alliance/dpa | Ayman Nobani

Vorlesungen hat die Jurastudentin Sally Hussein Aljoboury gerade nicht. Auch die Amerikanische Universität in Jenin im Westjordanland hat geschlossen, Vorlesungen finden keine statt. Vieles hat zu. Und die Bewegungsfreiheit zwischen den Städten in den palästinensischen Gebieten ist noch stärker eingeschränkt als vor dem Krieg in Gaza. Das Leben hat sich nach dem 7. Oktober auch für die Menschen hier sehr verändert.

Ungewissheit über das Schicksal der Familie

800 Mahlzeiten müssen die Jurastudentin Sally und 14 weitere Freiwillige hier in den nächsten zwei Stunden vorbereiten. Aber aktuell sind sie nur zu fünft. "Normalerweise haben wir mehr Freiwillige hier. Aber wegen der Situation gerade, können viele nicht herkommen." Im Westjordanland ist seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vor einem Monat auch vieles anders. Anders als davor. "Die Situation ist schlimm. Ich sollte eigentlich gerade in der Uni sein. Bin ich aber nicht, also versuche ich mich für Leute aus Gaza zu engagieren, die hier sind. Sie sollten eigentlich in Gaza sein und ich in der Uni. Niemand ist da, wo er gerade sein sollte. Also wollen wir das Richtige tun in diesem Chaos und uns gegenseitig helfen."

Männer mit Schlafsäcken in Unterkunft
Arbeiter aus Gaza sind in der Westbank untergekommen | Bild: SWR

Die 800 Malzeiten, die Sally gerade versucht fertig zu bekommen, sind für sie: Menschen aus Gaza, die zum Zeitpunkt des Angriffs der Hamas in Israel eine Arbeitsgenehmigung hatten. Und seitdem feststecken. Israel erklärte die Arbeitsgenehmigungen für ungültig. Plötzlich waren die Arbeiter aus Gaza illegal in Israel. Tausende sind daraufhin hier gelandet. Im Westjordanland. So wie er: Khamis. "Ich weiß überhaupt nichts von meiner Familie, weil die Verbindung zu Gaza unterbrochen ist." Seit 24 Stunden hatte Khamis keinen Kontakt mehr. In der Gegend, wo seine Familie sein soll, hat Israel gestern bombardiert. Seine Kollegen sagen, er stehe unter Schock. Sie alle hier können nichts machen als zu warten. Und die Informationen zu verarbeiten, die sie manchmal durch Telefonate bekommen, wie diese hier von vor ein paar Tagen. "Mein Haus in Gaza wurde dem Boden gleich gemacht." Immer wieder versucht er seine Familie zu erreichen. Immer wieder Hoffnung. Wieder keine Verbindung.

Sicherheitsmaßnahmen wurden massiv verschärft

Währenddessen versucht Sally das Essen fertig zu bekommen. Mittlerweile sind sie immerhin zu zehnt. "Es gibt viele Freiwillige, die in Dörfern und Städten wohnen, da sind jetzt israelische Straßensperren sind. Sie können nicht durch, könnten verhaftet werden. Deshalb können sie nicht zum Helfen kommen.

Israelischer Soldat steht an Straßensperre Wache
Sicherheitsmaßnahmen schränken die Bevölkerung ein  | Bild: SWR

Und deswegen sind so wenige da, aber wir versuchen es, alleine zu schaffen." Die israelische Armee hat seit Beginn des Krieges mit der Hamas auch im Westjordanland die Sicherheitsmaßnahmen massiv verschärft. Straßensperren errichtet, die die Bewegungsfreiheit der Bewohner zwischen den Städten massiv einschränkt. Über 150 Palästinenser sind hier im letzten Monat erschossen worden. Von radikalen Siedlern, die im Schatten des Gaza Krieges massiv Palästinenser angreifen. Oder aber durch Militäroperationen, die sich laut Israel gegen militante Palästinenser richten, bei denen aber auch immer wieder Zivilisten ums Leben kommen, auch Frauen und Kinder.

Im Auffanglager für die Arbeiter wartet Khamis weiter. Er kann nichts anderes tun. Der Angriff der Hamas hat für ihn alles verändert, für alle Palästinenser, die in Israel arbeiteten. Der Moment als er gehört hat, dass die Hamas Israel angreift, war für ihn ein Schock. "Ich habe viel Angst gehabt, ich war sehr verwirrt und war mir nicht sicher, wo ich hingehen soll, wir alle hatten viel Angst, und wir haben Glück gehabt, andere Arbeiter wurden geschlagen und ihr Besitz wurde beschlagnahmt. Bis heute versuchen wir Kollegen von uns zu erreichen ohne Erfolg, wir wissen nicht was mit denen passiert ist."

In der Halle, in der diese Arbeiter untergekommen sind, will uns noch ein anderer seine Geschichte erzählen. Eine, mit der sich bisher noch niemand vor eine laufende Kamera getraut hat. Sein Gesicht will er nicht zeigen. Die Anschuldigungen wiegen schwer. "Sie verhafteten uns, zogen uns aus, ließen uns Windeln tragen damit wir nicht zur Toilette gehen mussten, fesselten unsere Hände und Füße und verbanden unsere Augen. 10 Tage lang." Der Mann war Gärtner in Tel Aviv. Wurde wie Tausende andere Arbeiter aus Gaza nach dem Hamas Angriff am 7. Oktober verhaftet.

Massenfestnahmen von Palästinensern

Der Schock in Israel über den Hamas-Angriff war da noch komplett frisch. Einige Hamas-Terroristen noch in Israel. Die Wut und Angst vieler israelischer Soldaten groß. Eine ihrer Sorgen: Arbeiter aus Gaza könnten für die Hamas in Israel Spionage betrieben haben. Deshalb gab es Massenfestnahmen.

Handyvideo: Festgenommene Arbeiter aus Gaza
Viele Arbeiter aus Gaza wurden festgenommen | Bild: SWR

Jetzt, vier Wochen später, werden immer mehr Videos veröffentlicht, die zeigen, was mit manchen dieser Verhafteten passiert ist. "Sie schlugen uns die ganze Zeit. Schütteten Wasser auf uns. Sie ließen uns die ganze Zeit auf der Straße einfach so liegen ohne Decken, ohne dass wir wussten, warum man uns so behandelt." Am Ende lassen ihn die Soldaten in der Nähe des Checkpoints zum Westjordanland frei. Seitdem harrt er wie die anderen hier aus.

Sally kommt an der Halle an. Sie haben genügend Mahlzeiten fertigbekommen, rechtzeitig zur Mittagszeit. "Dass ihr hier seid, hilft uns", sagt einer der Arbeiter. "Danke euch und dank Gott, danke euch allen. Eure Hilfe von morgens bis abends lässt mich euch sehr wertschätzen." Drinnen versucht Khamis es nochmal bei seiner Familie. "Die ganzen Leitungen sind tot." Khamis gibt nicht auf. Und dann: "Was? Wie geht es euch, wo seid ihr jetzt? In der Schule oder wo genau? Mir geht es gut. Aber wie gehts dir? Wie geht’s dir? Hallo? Hallo?" Die Verbindung ist wieder weg. Aber Khamis weiß jetzt: Sie leben. Sind in einer Schule untergekommen. Doch die Freude weicht schnell weiteren Sorgen. Das Essen von Sally hat er bisher nicht angefasst. Das ist von gestern. Ich habe Essen, aber ich esse es nicht, weil meine Kinder kein Essen in Gaza haben. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, wie es sich anfühlt. Khamis und die anderen hier wissen nicht, ob und wenn wann sie nach Gaza zurückkehren können.

Im Gegensatz zu vielen Gaza-Arbeitern, die noch in israelischer Haft waren. Am Freitag schickte Israel Tausende von ihnen nach Gaza zurück. Ohne Geld und ohne Handys, die hatten ihnen die Soldaten abgenommen. Einer von ihnen, Samir, er bekommt ein Handy geliehen. Hört das erste Mal seit vier Wochen, dass seine Familie lebt. Erfährt wo sie sind. Nach vier Wochen Haft, vier Wochen Unwissenheit, kann er am Ende seine Kinder wieder in die Arme schließen.

Autorin: Hanna Resch, ARD-Studio Tel Aviv

Stand: 05.11.2023 21:34 Uhr

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