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Philippinen: Der Boom der Call Center

Philippinen: Der Boom der Call Center | Bild: ARD

"Ich fühle mich wie ein Zombie, ich bin sooo müde. Trotzdem arbeite ich lieber nachts. Das ist angenehmer, da stehe ich nicht im Stau." Worte einer Mitarbeiterin eines Call Centers in der philippinischen Hauptstadt Manila. Über eine Million überwiegend junger und gut ausgebildeter Menschen arbeiten in dieser Branche.

Vorwiegend nachts. Denn die Kundschaft sitzt hauptsächlich in den USA. Ist dort Mittag, zeigt die Uhr in Manila Mitternacht. Gibt es etwa in New York eine Beschwerde, eine Frage, die über Telefon abgesetzt wird, antwortet meist eine nette Stimme aus Manila, ohne dass der Kunde es bemerkt. Eine Reportage von Uwe Schwering (ARD Tokio) über das Heer der nächtlichen Schattenwesen in Manila.

Das Licht geht, die Hitze bleibt – in diesem Moloch namens Manila. Die Metropole tritt auf die Bremse, der Tag kommt zur Ruhe. Nur ein Heer von Schattenwesen nicht. Im geschwätzigsten ‚Night Life’ der Welt. Kreaturen der Finsternis, Roboter fast, menschliche Sprechmaschinen: Buchstäblich aus der Zeit gefallen, so wie Jezzel, 23. Die schöne Untote der Nacht. "Ich fühle mich wie ein Zombie, ich bin sooo müde. Trotzdem arbeite ich lieber nachts. Das ist angenehmer, da stehe ich nicht im Stau."

Zweisprachigkeit zahlt sich aus

Frau mit Headset
Die Kundschaft soll nicht merken, wo ihre Gespärchspartner sitzen. | Bild: SWR

Philippinische Zombies – schon über eine Million. Jung, gut ausgebildet, flexibel, ehrgeizig. Hier im Call Center hat sie schon als Studentin gejobbt. Jetzt sitzt Jezzel auf ihrem ersten festen Arbeitsvertrag. Die Philippinen sind das drittgrößte englischsprachige Land der Welt, 50 Jahre lang waren die Amerikaner da. Die meisten Kinder wachsen zweisprachig auf. Das zahlt sich nun aus, wenn Jezzel für amerikanische Krankenversicherungen die Nächte durchmacht: "Thank you, have a wonderful day." ... "Manchmal vergesse ich, Kunden auf Stumm zu schalten, und wenn ich dann singe, bekomme ich Komplimente wie: ‚Wow, Du singst ja.’ Sowas gibt’s." Singen oder Sprechen ist auch nur auf Englisch erlaubt. Die Kundschaft soll ja nichts merken. Die sitzt nämlich fast immer in den USA, daher auch die ewigen Nachtschichten. Mittagessen in New York gleich Mitternacht in Manila – ein Zeitunterschied, der zermürbt.

Call Center kurbeln die Wirtschaft an

Die Philippinen, Land der großen Gegensätze. Wirtschaftswachstum sechs Prozent, doch jeder Fünfte lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Call Center aber sind ein riesiger Entwicklungsmotor. Befeuert auch durch internationale Firmen, die wissen, was sie haben an Mitarbeiterinnen wie Dane. Sprachbegabt, freundlich, belastbar. Verunfallt irgendwo ein teures Auto deutscher Bauart, funkt der Bordcomputer SOS. Dane übernimmt, spricht mit dem Fahrer, trägt Verantwortung, Tag und Nacht: "Mein Antrieb ist meine kleine Tochter", erzählt Dane Panganiban, Call Center-Mitarbeiterin bei ‚BoschService Solutions’. "Für sie tue ich das alles. Also muss ich auf mich aufpassen. Jeden Tag versuche ich, ein bisschen Sport zu treiben, nehme meine Vitamine und gehe regelmäßig zum Arzt. Man muss auf seine Gesundheit achten."

Mitarbeiter in Call-Center
Über eine Million Philippiner arbeiten in einem Call Center. | Bild: SWR

Weiter vorn logiert der Chef, ein Deutscher. Mit 20 Leuten hat er angefangen, bald sind es mehr als 400. Das BPO-Business, also das Ausgliedern ganzer Betriebszweige wie Call Center, boomt. Auch dank Steuergeschenken und staatlicher Investitionen. Einsteiger verdienen etwa 400 Dollar pro Monat: wenig im Vergleich zu Deutschland oder USA, aber ein Vielfaches des philippinischen Durchschnittslohns. Und nachts gibt’s Zuschlag: "Heutzutage finden wir eine Million Mitarbeiter hier in der BPO-Industrie auf den Philippines, die zu 75 Prozent in Nachtschicht arbeiten", erklärt Steffen Rittner, Direktor bei ‚Bosch Service Solutions’ in Manila. "Wir haben auf den Philippinen momentan eher das Thema, dass die Mitarbeiter eher Probleme haben, sich ans Tagesgeschäft zu gewöhnen."

Hilfe aus Manila für den Fernseher in den USA

Ein strapaziöses Geschäft. Doch so arbeitet er, der neue philippinische Mittelstand. In einem Mega-Markt mit Karrierechancen. Und als Dane sich in den Feierabend staut, rollt bald anderswo der nächste Shuttle an, entlässt eine neue Brigade aus Rast- und Ruhelosen. Daryl verbringt die Nächte beim größten philippinischen Call Center-Anbieter. Mit Dienstantritt verschließt er auch seine sozialen Kontakte. Freundin, Familie gleich im Bett. Während er an der Strippe hängt in dieser Zweitausend-Köpfe-Telefonie-Fabrik. "Now let’s check here, M’am". Eine Dame aus USA sieht schwarz, Neustart des TV-Digitalreceivers. Daryl führt müde durchs Menu: "Wir schlafen mitten am Tag", erzählt Daryl Mendoza, Call Center-Mitarbeiter bei ‚SPI Global’. "Aufstehen so gegen acht oder neun, je nach Schicht, dann was essen. Im Grunde alles wie sonst auch, nur eben umgekehrt."

"Hello, guys, good morning! – Morning." Ein fröhliches ‚Guten Morgen’ am Abend – Call Center operieren in ihrer eigenen Zeit. Die Erschöpfung sitzt mit am Tisch, Training für Neueinsteiger. Blutgruppe: Kaffee. Bis auch der nicht mehr pusht. Und nichts geht ohne die Hilfe der philippinischen Großfamilie: Sie dient als Auffangbecken für die sozialen Folgen der unsozialen Arbeitszeiten. Auch Danes Tochter schläft deshalb bei Verwandten. Und wo gesellschaftlicher Aufstieg winkt, macht auch die Liebe mal Kompromisse: "Solange wir Verständnis haben für einander: kein Problem", meint Jevy Carretero Ramos, Danes Freund. "Wir sehen uns ja am Wochenende, unternehmen was oder besuchen unsere Familien."

Biorhythmus, was ist das?

‚Let’s eat’ ‚take your break’ Geisterstunde gleich ‚Lunchbreak’, die Welt steht Kopf. Auch Jezzel und ihre Kolleginnen fragen sich einmal mehr: Biorhythmus, was ist das? "Da wir in einer anderen Zeit arbeiten, müssen wir nachts um zwölf Mittag essen. Bisschen verrückt." Vier Stunden später, und die arme Seele hat Ruh’. Für 15 Minuten. Multitasking, Kommunikationsvermögen, Pflichtgefühl: Call Center schulen fürs Leben. Hochqualifizierte Nachteulen, eine neue Elite. Blinzelnd begrüßt Daryl den neuen Morgen. Er verliert keine Zeit – auf Nachtschicht folgt Tagschicht – an der Uni.

Schlafende Frau
Die Ruhepausen helfen kaum gegen die Erschöpfung. | Bild: SWR

Ein fester Job ist nicht genug. Überall strömen jetzt die Call Center-Agents aus den Büros in die Kneipen, machen den Tag zur Nacht, holen auf, was andere schon vor Stunden getrieben haben: "Es ist hart, nachts zu arbeiten und dann morgens in die Uni", sagt Daryl Mendoza. "Das geht an die Substanz. Aber ich unterstütze meine Familie. Und wenn ich meinen Abschluss habe, habe ich auch gute Möglichkeiten in der Zukunft." Eine Armee ohne Gesicht: Schon ist ihr ein Denkmal gesetzt. Nicht zu sehen, nur zu hören. Der Philippinen moderne Helden.

Stand: 08.07.2019 22:39 Uhr

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