So., 14.11.21 | 18:05 Uhr
Das Erste
Polen/Belarus: Flüchtlingskrise an der Grenze
Nur die Stärksten kommen durch
Mitten in der Nacht kommt das Signal. Ein Hinweis auf Flüchtlinge und Migranten in Not. Anna Alboth gehört zur Grupa Granica, der Border Group, einem polnischen Hilfsbündnis. Drei Syrer haben sich bei ihnen gemeldet. "Wir bekommen unsere Informationen direkt von den Flüchtlingen. Sie schicken uns Videos, Fotos und Aufnahmen von dem, was mit ihnen passiert." Und mit der Ortsmarke geht es dann rein in den polnischen Wald. Die Temperaturen schon knapp unter null. Mit dabei sind einige internationale Journalisten. Öffentlichkeit ist wichtig, um das Geschehen zu dokumentieren, betont die Border Group. Eine halbe Stunde später sind sie da. Diese Botschaft soll für alle sichtbar sein. "Ich bitte um Asyl in Polen", steht auf einem Schild. Die Syrer haben Angst und wollen ihre Namen nicht nennen. "Natürlich habe ich Angst, dass man mich wieder nach Belarus hinauswirft. Das ist mir schon vier Mal passiert. Aber jetzt hoffe ich, dass die polnischen Behörden meinen Asylantrag annehmen."
Die Mitarbeiter von Grupa Granica haben einen Dolmetscher dabei. Die Syrer berichten, wie katastrophal die Lage drüben in den Wäldern ist. Nass, kalt, menschenunwürdig. Anna Alboth ärgert sich über Europa und jetzt besonders über Polen. "Europa reagiert doch seit Jahren nicht. Und das, was jetzt in Polen passiert, ist um ein Vielfaches schlimmer. Der Ausnahmezustand dauert schon so lange und der Winter naht." Diesen Ausnahmezustand kritisieren alle Hilfsorganisationen! Entlang der polnischen Grenze gibt es auf drei Kilometern Breite keinen Zutritt für humanitäre Helfer. Auch nicht für Journalisten, die unabhängig berichten wollen. Begründet wird das mit Sicherheitsbedenken.
"Diese Jungs, die durch die Absperrungen kommen, das sind die Stärksten", sagt Anna Alboth. "Schwächere Personen mit kleinen Kindern, ältere Personen, bleiben in der Sicherheitszone stecken. Diese Personen können wir nicht erreichen und die Medien können ihre Situation nicht zeigen. Für mich ist das furchtbar. Denn die größten Tragödien werden auf diese Weise vor uns versteckt gehalten." Für diese Syrer endet ihre Flucht nach Europa zunächst in den Händen des polnischen Grenzschutzes. Die Aufmerksamkeit der Medien und die Unterstützung der Grupa Granica scheinen in diesem Fall geholfen zu haben. Sie alle sind zunächst noch in Polen.
Am Unabhängigkeitstat marschieren die Nationalisten
200 Kilometer weiter westlich. Die Nationalisten marschieren am Unabhängigkeitstag. Wenn es nach ihnen ginge, käme niemand über die Grenze. Neben dem Stolz auf die polnische Heimat versammeln sich hier auch fremdenfeindliche, homophobe, europa- und deutschlandfeindliche Stimmen.
Sich an diesem Tag mit einer Regenbogenfahne an den Rand des Marsches zu stellen, erfordert Mut, den die 24jährige Joanna Miskiewicz und ihr Freund offenbar mitbringen. "Ich bin gegen Faschismus, es gefällt mir nicht, dass der polnische Nationalfeiertag von nationalistischen Gruppierungen übernommen wird. Ein Faschist hat gerade versucht mir die Fahne wegzureißen. Meine Freunde haben mir geholfen, sie zu behalten. Diese Fahne hat schon vieles erlebt." Die junge Soziologin kämpft seit Jahren gegen die nationalkonservative Regierungspolitik, die solche Märsche fördert, das Abtreibungsrecht verschärft und die umstrittene Justizreform ungerührt weiterführt. Joanna und ihr Freund sind dagegen. "Die Freiheit fängt an dort, wo die Angst endet."
"Abschotten ist unmenschlich"
Zurück in Grenznähe. Anna Alboth hat sich der Hilfe für Flüchtlinge und Migranten verschrieben. Nun trifft sie sich mit deutschen Aktivisten. Sie haben Hilfspakte mitgebracht. Die sind wichtig, aber auch die politische Unterstützung. Um Geflüchtete müsste sich Europa gemeinsam kümmern, Abschotten ist aus ihrer Sicht vor allem eines: Unmenschlich. "In Polen steht es von Jahr zu Jahr schlechter um die Menschenrechte. In jeder Hinsicht. Die Regierung schränkt auf jeder Ebene die Rechte ein, wie sie nur kann. Auf eine Weise, die sehr strategisch ist. Wenn man denkt, dass es nicht schlimmer werden kann, weil es um Frauen, Lehrer, Behinderte oder Flüchtlinge geht, stellt man fest, dass es doch so sein kann. Ich bin entsetzt." Anna Alboth sieht sich als Kämpferin für die Menschenrechte. Sie geht weiter in die polnischen Wälder und kämpft. In Polen sei dieser Kampf gerade besonders wichtig.
Autor: Olaf Bock
Stand: 15.11.2021 11:56 Uhr
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