So., 07.02.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Portugal: Gesundheitssystem vor dem Kollaps
Experten machen die Lockerungen über die Weihnachtszeit für die extrem hohe Inzidenz in Portugal verantwortlich. Drei Autostunden von Lissabon haben die Behörden ein Feldlazarett nur für Covid-Kranke errichtet. Trotzdem sind die Betten knapp wie überall im Land. Entspannte Familienfeste und die britische Mutation des Corona-Virus führen dazu, dass die Fallzahlen in Portugal so hoch sind wie nirgendwo in Europa. Dazu kommt Missmanagement im Gesundheitswesen. Portugal droht der Kollaps. In dieser schwierigen Situation versucht seit Mittwoch auch ein Team der Bundeswehr zu helfen.
Es fehlen die Arbeitskräfte im Krankenhaus
Unterwegs auf einer fast leeren Landstraße, Portugal im Lockdown. Ein später Versuch der Regierung, die Neuinfektionen unter Kontrolle zu bringen. Über den rasanten Anstieg sind viele Menschen geschockt, auch in der Stadt Viseu. "Es ist fürchterlich" sagt eine Anwohnerin, "aber wir müssen da jetzt durch und Opfer bringen. Wenn wir uns gegenseitig helfen, schaffen wir das."
Im Regionalkrankenhaus bekommen wir eine Ahnung von der dramatischen Herausforderung. Die Ärzte machen die Lockerungen über Weihnachten, Familientreffen und private Feiern für die schlimme Lage verantwortlich. Und dann ist noch eine gefährliche Virus-Mutation unterwegs. So rollt eine riesige Welle. Im Hospital werden fast nur noch Covid- Patienten behandelt, die Intensivstation wurde dreifach aufgestockt. "Wir sind im Moment auf einem sehr hohen Plateau. Immer um die 270, 280 Patienten, die stationär aufgenommen sind. Auf Intensiv steigen die Zahlen stetig. Das heißt, wir haben ganze Familien im Krankenhaus. Wir haben Familientragödien, die sich hier abspielen."
Vitor Almeida ist im niedersächsischen Goslar aufgewachsen und ausgebildet worden. Ein überaus engagierter Notfall-Mediziner, der nun mit ansehen muss, wie die Zahl der schweren Fälle immer weiter ansteigt. Noch reiche die technische Ausstattung, sagt er, das große Problem liege woanders. "Was wirklich fehlt ist Arbeitskräfte. Warum? Weil junge Ärzte und junge Pfleger vom Ausland abgeworben werden. Der Ausbildungsstandard ist sehr hoch und die werden mit Kußhand genommen. So einfach ist das. Was wir hier sehen ist Personal, dass 80 Stunden in der Woche arbeitet im Moment und massiv unter Druck steht." Bei unserem Besuch wird klar: die öffentlichen Krankenhäuser Portugals tragen die Hauptlast im Kampf gegen das Virus, sie brauchen dringend Unterstützung.
Die Bundeswehr hilft vor Ort
Hilfe kam am Mittwoch – die Bundeswehr schickte ein 26-köpfiges Team nach Lissabon, acht Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegepersonal. Ihr Einsatzort: eine moderne Privatklinik in der Hauptstadt – so hat es die portugiesische Regierung entschieden. Kontrovers, denn bislang hat sich der Privatsektor beim Kampf gegen das Virus nicht besonders beteiligt. Bei einem Pressetermin zeigten sich die Verantwortlichen der Bundeswehr angetan von den idealen Arbeitsbedingungen – acht Intensivpatienten werden sie hier ab Montag rund um die Uhr betreuen. Doch auch die Soldaten, sonst eher schwierige Verhältnisse gewohnt, waren überrascht vom Hi-Tech Ambiente. "Die Portugiesen haben uns gebeten, hier zu arbeiten", sagt Oberarzt Jens-Peter Evers. "In der Tat ist es auch so, dass wir nicht in der der Privatklinik arbeiten, sondern die Privatklinik hat uns diese Infrastruktur hier zur Verfügung gestellt. Und die Patienten, die wir behandeln werden, die werden übernommen von anderen Krankenhäusern. Somit unterstützen wir nicht die Privatklinik, sondern nutzen nur deren Räumlichkeiten."
In fernen Viseu schaut man neidisch nach Lissabon. In einer Sporthalle hat das Krankenhaus eine provisorische Covid-Station errichtet, Vitor Almeida betreut sie. Er ist sauer auf seine Regierung. Denn die weigere sich, womöglich aus Angst vor einer einflussreichen Lobby, Privatkliniken zwangszuverpflichten – und nun schicke sie die Bundeswehr ausgerechnet in eine Privatklinik. "Das öffentliche System ist eindeutig überlastet, und jetzt kommen die privaten in die Szene. Und das gibt ein Gefühl des Unrechtes, auch diesen bitteren Nachgeschmack, nach zehn Monaten wirklich Pandemie-Kampf, auf einmal kommen die privaten und dann auch noch mit der Bundeswehr." Die öffentlichen Krankenhäuser am Limit, die Lage, auch wegen politischer Entscheidungen, außer Kontrolle – Portugal steht vor schwierigen Wochen.
Autor: Stefan Schaaf, ARD-Studio Madrid
Stand: 07.02.2021 21:28 Uhr
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