Mo., 04.12.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Russland: Boom bei Wunderheilern und Wahrsagern
Ein verheißenes Land. Das Altai-Gebirge, an der Grenze zur Mongolei, Kasachstan und China. Schon zu Zeiten der Sowjetunion pilgerten Eingeweihte hierher, die Landschaft solle den Menschen öffnen und innere Prozesse verursachen – ein Ort für Aussteiger und Suchende, so die Legende.
Gestresste Großstädter als "moderne Pilger"
"Die Einheimischen sagen immer: wenn du hier laut denkst, dann wird dein Gedanke erfüllt. Denkt dran – das ist wichtig, an solchen Kraftorten", sagt Yelena Gomayun. Sie nennen sich "moderne Pilger": Yoga, Rituale, Selbsterforschung. Die Parapsychologin Yelena Gomayun bringt regelmässig gestresste Großstädter in den Altai. Nur wenige wollen über ihre Erfahrungen sprechen.
"Vor einem Jahr war ich hier – und alle meine Wünsche wurden erfüllt. Ich komme zur Erholung – und: um Wunder zu finden", erzählt die 27-jährige Anna, eine Unternehmerin aus Nowosibirsk.
Die Parapsychologin empfiehlt ihnen die heilenden Ikonen im Kloster des Bergdorfs. Und wo die Flüsse ineinanderfließen, sollen sie sich den Lebenspartner herbeiwünschen.
"Ich denke, wir Russen waren schon immer auf Sinnsuche, so sind wir veranlagt...Ich erinnere mich, ich war noch klein, in der Sowjetunion, und bekam mit, wie jemand in der Familie zur Heilerin ging. So etwas gab es bei uns immer", erinnert sich Yelena Gomayun.
Alternativen zur modernen Medizin
Ein Dorf im Südwesten Russlands. Zu Besuch bei Nadia Melgunowa. Früher habe man ihresgleichen verbrannt, auf dem Scheiterhaufen, sagt sie. Heute würden sogar die Ärzte ihren Patienten empfehlen, zur Babuschka, zur Dorfoma zu gehen. Und sich mit Wasser, Wachs, und Gebeten heilen zu lassen. Nadia behandelt nur Getaufte. "Siehst du...du hattest einen großen Schrecken. Jetzt kaum noch. Sonst würde es anders aussehen. Alle möglichen Leute kommen. Gesunde, Arme, Reiche. Angst kann ich heilen, gegen den bösen Blick kann ich was machen, gegen Angina, und Fäulnis. Gegen vieles", so Nadia Melgunowa.
Hundert Kilometer weiter. Hoffen auf einen Zaubertrank. Vor einem Dorfhäuschen warten Autos aus Moskau, und noch ferneren Regionen.
"Bei mir wurde Krebs diagnostiziert, und ich wollte hier behandelt werden. Vielleicht werde ich auf diesem Wege gesund", sagt eine Frau.
"Ganz ehrlich – Ich wollte das Alkoholproblem meines Mannes lösen. Ich schätze Alkohol ist das Problem Nummer eins in Russland", erzählt eine andere.
Reinigung des Schlechten
Nadeschda Starzeva hat keine leichte Zeit. Vor kurzem brachte sich ihr Ehemann um. Alkohol war im Spiel, und Eifersucht. Sie ist angeschlagen. "Was die Ärzte über die dunklen Flecken auf meiner Lunge sagten, macht mir Angst. Über die Kinder will ich auch Bescheid wissen. Ich hab' viele Kinder, und sorge mich um jedes."
Die Kreuze, die die Streichhölzer im Wasser formen, stünden für die Last im Leben, sagt er. Zu Wadim Petrowitsch sind schon tausende gekommen. Er sieht die Krankheit der Tochter, die Schatten auf Nadeschdas Lunge. Wadim Petrowitsch prophezeit ihr einen neuen Mann im Leben, bald, im neuen Jahr. Sie solle das Wasser trinken, das er besprochen hat. Wer will, lässt dem Alten Geld da, wieviel auch immer.
"Ich versuche, alles zu reinigen. Das Schlechte. Also alles Schlechte abzutragen...ich hoffe ja, weniger Menschen hier zu empfangen. Aber es kommen immer mehr", erzählt Wadim Petrowitsch.
Lange Geschichte des Übersinnlichen
Das Übersinnliche galt in der Sowjetunion als offenes Geheimnis. Berühmt: die telepathischen Experimente von Nina Kulagina in den sechziger Jahren. Vom Geheimdienst aufmerksam beobachtet. Kurz vor dem Ende der Sowjetunion lösten seine Auftritte im Staatsfernsehen einen Massenwahn aus: Anatoly Kaschpirowsky versetzte die Nation in angeblich heilende Trance. Wunderheilerin Djuna Dawitaschwili soll Staatschef Leonid Breschnew und später Präsident Jelzin geholfen haben.
Zwanzig Jahre später: Unzählige Magier preisen ihre Dienste an im Internet.
Das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche bezeichnet den Machtantritt Wladimir Putins als Gotteswunder. Und spricht von der baldigen Apokalypse.
Polizisten holen Priester, um Straßen zu "sichern", wo viele Unfälle passieren. Christus als magische Institution gegen Unglück. Soziologen machen Depression, Orientierungslosigkeit und Existenzängste verantwortlich für das wiedererstarkte magische Denken.
Warten auf Wunder
"Den Menschen fehlt die gesamte Vorstellung von dem, was in der nahen Zukunft sein wird. Sie planen ihr Leben nur von einem Lohn zum nächsten. Maximal nur für ein paar Monate", so Lew Gudkow vom Umfrage-Institut Lewada.
Für die Parapsychologin ist klar: Nicht nur auf dem Land gibt es Helfer gegen die Ungewissheit. Ihre Kunden aus der Schauspiel-, Internet- und Musikbranche in Moskau könnten gar nicht ohne die.
"Sie holen sich Übersinnliche, Energie-Therapeuten, irgendeine Wahrsagerin, einen guten Psychologen oder mich als Parapsychologin", berichtet Yelena Gomayun.
Warten auf Wunder und äußere Mächte. Es ist wie ein großer Schritt zurück in die Vergangenheit, um die Zukunft zu bewältigen.
Autorin: Golineh Atai/ARD Studio Moskau
Stand: 31.07.2019 15:12 Uhr
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