Mo., 21.12.15 | 04:50 Uhr
Das Erste
Russland: Ende der Schonfrist für die Flüchtlinge
Das Ferienheim "Falke" in der Region Twer: Zuflucht für 100 ukrainische Flüchtlinge aus dem umkämpften Donbass. Doch jetzt sollen sie raus. Der Streit mit den Beamten des Sozialamts eskaliert: Viele wie Nadjeschda sind mit ihren Kindern geflohen. Wo sollen sie hin?
Eine Großmutter mit ihrem Enkel ist verzweifelt: "Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Auf die Straße wohl, mit all unseren Sachen. Das hier ist schon das siebte Flüchtlingsheim. Hier sind wir zum zweiten Mal."
Ende der Unterbringung
Alle, auch die Mütter mit Kindern, sollen sich selbst Arbeit und eine Wohnung suchen, so die Behördenvertreter. Doch wohin bringt eine alleinstehende Mutter und ihre Kinder, wollen wir wissen? Die Beamten lehnen ab, sich bei den Gesprächen mit den Flüchtlingen filmen zu lassen. Alles sei doch persönlich, heißt es. Die wartenden Ukrainer sind da gesprächiger.
"Mir reicht‘s, dass sie uns hier so schweinisch behandeln", meint Tatjana: "Wie Hunde! In der Kantine betteln die Kinder hungrig um einen Nachschlag, weil sie in der Schule nicht genug zu essen kriegen. Meine Tochter kommt nachhause und bittet um Essen. Und was soll ich ihr geben?"
Nadjeschda hat von den Beamten ein Arbeitsangebot bekommen, so wie die meisten anderen auch: Managerin in einem Hotel. Anderen wird vorgeschlagen, Melkerin zu werden: 30 Kühe pro Tag für 90 Euro im Monat. Doch Nadjeschda merkt schnell: Die Angebote sind alt, die Jobs längst vergeben. Tatjana ist wütend: Auch ihr wurde der Job als Melkerin angeboten, einhundert Kilometer entfernt: "Ich soll die Kinder so lange ins Heim bringen. Habe ich sie dafür aus der Ukraine gerettet?!"
Aushilfsjobs, keine Arbeit
Ernüchterung auch bei den anderen wie Nadjeschda: "Ein Witz! Ich sollte da nur über die Neujahrsfesttage arbeiten, zehn Tage! Und danach wohin? Für die zehn Tage kriege ich vielleicht 15, 20 Euro – Ende. Und was soll ich mit meinen beiden Kindern machen?!"
Zehn Tage später: Alle haben den Antrag unterschrieben, mit dem Bus nach Twer gefahren zu werden. Freiwillig, heißt es. Auch Nadjeschda packt. Sie ist alleine mit ihren beiden Kindern nach Russland geflohen. Die kleine Katze, die ihnen zugelaufen ist, kommt auch mit. "Freiwillig", sagt Nadjeschda, "hat niemand unterschrieben. Die drohten mit Essensentzug. Und wer nicht unterschrieb, wäre trotzdem rausgeworfen worden, hätte hier fernab der Stadt, auf der Straße gestanden."
In Twer auf der Straße
Über eine halbe Million ukrainischer Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr recht unbürokratisch in Russland aufgenommen, jetzt aber sollen bis zum Ende des Jahres alle Übergangsheime geräumt werden. Nicht nur die Kinder sind ratlos: Mitten in Twer werden die Flüchtlinge ausgesetzt, gleich neben dem Hauptbahnhof, mit all ihrem Gepäck – aber ohne Geld. Ein Mann fordert: "Fahrkarten! Die Leute wollen irgendwo hin fahren, aber womit?"
Galina beschwert sich über die Behörden: "Die sagen uns: 'Es gibt kein Geld.' Uns wurden Fahrkarten versprochen, aber die Leute vom Sozialamt sagen jetzt: 'Die, die sie Euch versprochen haben, sitzen da im Ferienheim…'"
Nach zwei Stunden stehen die meisten noch immer frierend und ratlos im Zentrum der Stadt. Einige haben Verwandte oder Freunde alarmiert, andere versuchen verzweifelt, die zuständigen Behörden der Stadt zu erreichen, den Gouverneur, den Katastrophenschutz: "Hier stehen viele am Bahnhof, mit Kindern. Kommen Sie her und sehen Sie selbst!"
Anruf aus Moskau
Die ersten flüchten in den Bahnhof, um sich aufzuwärmen. Inzwischen hat ein Anruf aus Moskau die Behörden hier alarmiert: selbst die Sozialministerin der Stadt ist gekommen. Die Tatsache, dass wir mit unserer Kamera die frierenden Kinder im Schnee filmten, hat vermutlich dazu beigetragen.
Einigen Gruppen hat die Ministerin selbst jetzt die Fahrkarten bezahlt. Die anderen, die nicht wissen, wohin sie fahren sollen, werden zumindest heute Nacht in einem anderen Heim untergebracht, erzählt Nadjeschda.
Das Ferienheim ist binnen Stunden zur Flüchtlingsunterkunft erklärt worden. Aber lange will auch die Stadt Twer sie nicht aufnehmen; die Ministerin lässt ihre Beamten nach Arbeitsplätzen suchen. Einfach wird das nicht. Nadjeschda etwa hat als Technikerin in einem Bergwerk gearbeitet. So etwas gibt es hier nicht. Wird auch sie sich bald in den Strom derer einreihen, die aus Russland in den zerstörten Donbas zurückkehren? Schon 1500 Ukrainer tun das täglich, nicht alle wohl aus Heimweh…
Autor: Udo Lielischkies, ARD Moskau
Stand: 10.07.2019 09:02 Uhr
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