So., 05.02.23 | 18:30 Uhr
Das Erste
Schweden/Türkei: Blockierter NATO-Beitritt
Schweden benötigt unbedingt die Zustimmung des türkischen Präsidenten Erdoğan für seinen angestrebten NATO-Beitritt. Und diese Macht nutzt Erdoğan weidlich aus. Denn er will im Mai wiedergewählt werden. Die Empörung seiner Landsleute wegen einer Koran-Verbrennung in Stockholm kommt ihm da gerade recht. Er versucht derzeit, einen Keil zwischen die NATO-Aspiranten Finnland und Schweden zu treiben. Das ohnehin schwierige Verhältnis der Länder auf dem Tiefpunkt angekommen.
Schweden: NATO-Beitritt in Gefahr
Mit der Ruhe ist es vorbei im Stockholmer Regierungsviertel. Hinter den Kulissen steigt die Nervosität. Auf den letzten Metern ist der NATO-Beitritt des Landes mehr als gefährdet. Ihr Besuch soll helfen: Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin auf dem Weg zu einer gemeinsamen Pressekonferenz. Ihr schwedischer Amtskollege Ulf Kristersson braucht jetzt dringend ein Signal der Loyalität. "Was in den vergangenen Wochen passiert ist, war nicht hilfreich", sagt der schwedische Ministerpräsident. "Das ist klar. Deshalb müssen wir wieder in einen vernünftigen Austausch kommen. Und das ist nicht möglich, wenn die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes brennen.”
Diese Szene könnte Schweden die NATO-Mitgliedschaft kosten. Vor der türkischen Botschaft in Stockholm verbrennt ein bekannter Rechtsextremist den Koran. Es ist nicht das erste Mal. Die Türkei schäumt. Und auch Nachbar Finnland ist verstört. Hält sich aber öffentlich mit Kritik zurück. "Bei uns in Finnland ist es überhaupt nicht erlaubt, irgendetwas im öffentlichen Raum zu verbrennen", sagt die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin. "Es geht nicht nur um den Koran. Man darf gar nichts öffentlich erbrennen. Mach’ es einfach nicht!” In Schweden ist das anders. Den Koran in Flammen aufgehen zu lassen, ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Und der Rechtsextremist hat weitere Störaktionen angekündigt.
Türkei: Erdogan im Wahlkampfmodus
Ihm spielt die Koranverbrennung in die Karten: Recep Tayyip Erdogan diese Woche auf einer Wahlkampfveranstaltung mit jungen AKP-Anhängern. Gemessen an den Problemen der Jugend müsste es hier eigentlich um die schlechte Wirtschaft und die hohe Jugendarbeitslosigkeit gehen. Doch der türkische Präsident zieht ein anderes Thema vor: "Wenn wir wollen, können wir Finnland eine andere Botschaft übermitteln. Schweden würde darüber schockiert sein. Aber natürlich nur, wenn Finnland nicht den gleichen Fehler begeht."
Applaus von den Anhängern. Erdogan als eiserner Verteidiger der Konservativ-Islamischen Werte – das kommt an und bringt Stimmen. Die kann er gebrauchen. Denn die Zustimmungswerte seiner AKP liegen derzeit bei gerade einmal 30 Prozent. Wirtschaftskrise, hohe Inflation und Währungsverfall – all das sorgt für wachsenden Unmut. Dass Schweden und Finnland in die NATO wollen, interessierte hier so gut wie niemanden. Bis zur Koranverbrennung. Eine Steilvorlage für die Erdogan-Regierung, sagt Selim Kuneralp, ehemaliger türkischer Botschafter in Schweden. "Jetzt bekam Herr Erdogan plötzlich die Gelegenheit, sich an die türkische Öffentlichkeit zu wenden und zu sagen: Schaut her, diese Leute verbrennen Korane. Und die schwedische Regierung unternimmt nichts dagegen. Wollen wir etwa zusammen mit solchen Leuten, die so respektlos gegenüber der Religion sind, in einer Organisation sein?"
Vor dem schwedischen Konsulat in Istanbul protestierten vergangene Woche hunderte Menschen, hauptsächlich streng Konservative. Das Konsulat wurde vorübergehend geschlossen. Für Erdogan ein Triumph: Denn fast in Vergessenheit geraten war seine Grundforderung an Schweden: Die Auslieferung von 120 Personen, hauptsächlich Kurden. Schweden: ein Terrorunterstützer – zumindest, wenn es nach Erdogan geht.
Schweden: werden die Kurden geopfert?
Denn Schweden lässt auch solche Demonstrationen zu. Kurden, die das Gesicht des türkischen Präsidenten mit Füßen treten. Unter die Gegner eines NATO-Beitritts mischen sich Sympathisanten der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Miliz YPG. Auch Ejin Imad ist gekommen. 2008 floh sie mit ihrer Familie nach Schweden. Sie steht nicht auf Erdogans Liste. Und doch fürchtet sie, dass Freunde und Bekannte bei den Verhandlungen mit der Türkei geopfert werden könnten. "Ich als Kurdin in Schweden finde es wichtig, dass Schweden bei seinen Grundwerten bleibt. Dass sie nicht die Meinungsfreiheit und uns als Volksgruppe opfern, die weltweit unterdrückt wird, nur um Erdogan glücklich zu machen."
Auf Erdogans Wunschliste stehen neben kurdischen Aktivisten, auch kritische Journalisten sowie Menschenrechtler, die nichts mit der PKK zu tun haben. Jeder Auslieferungswunsch wird von Gerichten geprüft. Mindestens zwei Abschiebungen hat es bereits gegeben. Für Ejin Imad keine guten Vorzeichen für die kommenden Wochen. "Wenn sie zurückgeschickt werden, ist klar, was passiert. Wer auf Erdogans Liste steht, landet im Gefängnis.” In dieser Woche hat Schweden auch seine Anti-Terror-Gesetze verschärft. Ein weiteres Zugeständnis an die Türkei, sagen sie hier.
Türkei/Schweden: Einigung nach der Wahl möglich?
Für die einen ein Zugeständnis, für die türkische Regierung ein Muss. Doch selbst, wenn Schweden dem Drängen Ankaras nachgeben würde – eine Zusage vor den Wahlen in der Türkei Mitte Mai ist so gut wie undenkbar. "Jetzt, in der Zeit vor den Wahlen, will Herr Erdogan auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass er einen Kompromiss akzeptiert", sagt ex-Botschafter Selim Kuneralp. "Das käme bei seiner Wählerschaft auch überhaupt nicht gut an. Das heißt: Die ganze Sache ist jetzt erst mal auf Eis gelegt. Vielleicht nicht besonders tiefgefroren, aber auf Eis gelegt für die kommenden vier bis fünf Monate." Danach wird das Thema wieder aufgetaut, ist sich Selim Kuneralp sicher. Bleibt Erdogan an der Macht, würden die Verhandlungen etwas zäher laufen. Gewinnt die Opposition, könnte es schneller gehen.
In Schweden wissen sie, dass sie bis nach der Wahl warten müssen. Ankaras Angebot, Finnland vorzuziehen, lehnt Sanna Marin freundlich, aber bestimmt ab. "Es ist im Interesse aller, dass Finnland und Schweden gemeinsam in die NATO gehen. Wir arbeiten eng zusammen, stehen in dieser Sache im ständigen Kontakt. Beide Länder erfüllen alle Voraussetzungen.” In Schweden hoffen sie, dass insbesondere die USA hinter den Kulissen weiter Druck auf die Türkei ausüben. Damit das Ziel eines gemeinsamen Beitritts mit Finnland bis zum Sommer doch noch gelingen kann.
Autoren: Katharina Willinger, ARD-Studio Istanbul und Christian Blenker, ARD-Studio Stockholm
Stand: 06.02.2023 15:19 Uhr
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