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Schweiz: Müssen Alpendörfer aufgegeben werden?

Schweiz: Müssen Alpendörfer aufgegeben werden?  | Video verfügbar bis 24.11.2026 | Bild: SWR

Wenn sich Alex Schläppi anseilt, kümmert er sich um die Sicherheit seines Heimatortes Guttannen im Berner Oberland. Er kontrolliert das Frühwarnsystem für Gerölllawinen, das Schweizer Forscher dort installiert haben. Denn immer öfter gehen in den Alpen immer heftigere Felsmassen abwärts – so genannte Murgänge – mit immer schlimmeren Folgen für die Anwohner im Tal. Schuld ist die Erderwärmung, weswegen der Permafrost in den Alpen langsam auftaut, was Geröll freisetzt, das durch Starkregen rasant talabwärts gespült wird. Der Schutz der Berg-Dörfer wird immer teurer. Zum Beispiel der Ort Brienz. 2023 ein ging ein gewaltiger Felssturz ab, mit mehr als 70 Millionen Franken soll der vor dem weiteren Abrutschen bewahrt werden. Ein kilometerlanger Entwässerungsstollen – so hoffen die Behörden – soll die Zukunft des 80 Einwohner-Örtchens sichern. Lohnt sich das oder müssen Alpendörfer eher aufgegeben werden?

Häuser werden aufgegeben, Weideland ist verloren

Das hier ist Heimat – für Franziska von Bergen. Hier – im Berner Oberland – wuchs sie auf, mit diesem Ort verbindet sie unvergessliche Erinnerungen. "Die Kindheit war sehr sehr schön – wirklich. In der Natur und am Bach, an der Aare. Das war das Paradies als Kind. Aber jetzt ist es ausgestorben. Das Schlimmste sind immer diese schwarzen Fenster ohne Vorhänge ohne Leben." Mittlerweile darf Franziska nur noch her, um ihr Haus winterfest zu machen. Denn ihre Gemeinde Guttannen zwang sie vor wenigen Monaten auszuziehen, weil direkt vor Franziskas Haus gefährliche Gerölllawinen herunterkommen.

Überwachungskamera zeigt Geröll-Lawine
Erdrutsch in Guttannen im August 2023 | Bild: SWR

Der Spreitgraben – weiter oben – könnte zu einer tödlichen Bedrohung werden. So wie 2023. Damals wurden sie im Tal von der Naturgewalt überrascht. Eine Folge des Klimawandels. Weil sich die Erde erwärmt, taut der Permafrost in den Alpen. Das setzt Geröll frei. Wenn dann über dem Meer – ebenfalls wegen der Erderwärmung – große Wassermassen aufsteigen, bilden sich sehr wasserreiche Wolken. Die Folge: extremer Starkregen und Gerölllawinen in den Alpen. Murgänge nennt Alex Schläppi diese Extrem-Ereignisse. Der Bergführer erlebt diese immer öfter und immer heftiger. "Wenn man jetzt schaut, dieser Graben hier, der linke, der hatte, bevor diese Murgang-Aktivitäten angefangen haben, hat er ausgeschaut wie hier der rechte. Das war ein großer Unterscheid. Man hat sogar mit dem Vieh – mit Ziegen und Kühen – hat man in der Mitte das Stück noch geweidet. Jetzt ist da keine Chance mehr, dass man dort … das Weideland ist jetzt verloren, das kann man nicht mehr benutzen."

Mann hängt - an einem Seil gesichert - über einem Graben
Alex Schläppi kontrolliert das Frühwarnsystem am Spreitgraben | Bild: SWR

Alex kontrolliert das Frühwarnsystem am Spreitgraben. "So, noch Bremshandschuhe sonst gibt’s warme Finger." In luftiger Höhe schaut er nach dem Rechten, überprüft Kabel und Sensoren. Alles in Ordnung? "Gut. Das ist bestens. Das ist alles ok." Weiter unten hängen Steine – als Sensoren für Gerölllawinen. Werden sie fortgerissen, löst das Alarm aus – unten in Guttannen. Dort kam 2005 derart viel Geröll ins Tal, dass der Ortskern überschwemmt wurde. Damals noch ohne Frühwarnsystem.

Millionen investieren oder Orte aufgeben?

Was bedeuten diese Klimaveränderungen für Guttannen? Der Leiter der örtlichen Schreinerei, Gemeindepräsident Werner Schläppi, ist strikt gegen die Idee, Alpendörfer aufzugeben. "Wir sehen das natürlich etwas anders. Wir haben nicht das Gefühl, dass man die Berggebiete aufgeben muss oder soll. Die Politik wird sich damit befassen müssen – die Gesellschaft als Ganzes: Wieviel ist uns das Berggebiet wert?"

Eine Frage, die sich in Brienz in Graubünden stellt. Der Ort wird seit Jahren durch herabstürzende Felsen bedroht – musste gerade erst erneut evakuiert werden. Doch das ist nicht die einzige Naturgefahr: Brienz rutscht auch kontinuierlich bergab. Um mehr als zwei Meter pro Jahr. Schuld hier ist Grundwasser, weswegen sie einen Entwässerungsstollen – mehr als zwei Kilometer lang – durch die Erde bohren. Gesamtkosten: 77 Millionen Franken.

Rohrleitungen an einem Tunnelportal
In Brienz wird ein Entwässerungsstollen gebaut | Bild: SWR

Immer wieder gibt es kritische Fragen an die Verantwortlichen: Lohnt sich das überhaupt? "Ja, gut, diese Kritiker wohnen meist nicht in diesen Orten", sagt Gemeindepräsident Daniel Albertin. "Und dann ist es einfacher, zu sagen, aufzugeben. Aber auch wir sehen, dass es viele Kosten verursacht. Aber die Kostenanalyse zeigt uns klar auf, dass wir hier wirklich diese Millionen investieren können. Und vor allem durch das technische Wissen, was man heute hat, sollte man wirklich versuchen, dort wo man sich gewohnt ist zu wohnen, zu leben und zu wirtschaften, auch dies ermöglichen."

Welche Schutzmaßnahmen lohnen sich?

Doch wieviel muss investiert werden, wenn plötzlich auftretende Murgänge immer verheerendere Folgen haben? Oder Überschwemmungen wie im bekannten Tourismusort Zermatt? Klar ist: Extremereignisse werden immer unvorhersehbarer. Zuletzt starben im Misox-Tal drei Menschen. Wissenschaftler tun sich derzeit noch schwer, abzuschätzen, welche Schutzmaßnahmen sich lohnen – und welche nicht.

Frau sitzt am Rand eines Geröllfeldes
Hier kann Franziska von Bergen nicht mehr leben  | Bild: SWR

Franziska von Bergen wohnt jetzt woanders. Die Berichte über Opfer und Schäden anderswo verfolgt sie aufmerksam. "Ich habe gedacht, ah, es gibt noch andere Leute, denen dasselbe passiert, denen was viel Schlimmeres passiert ist. Ich war dankbar, dass ich hier die Möglichkeit habe, zu gehen, bevor ich ums Leben komme, zum Beispiel im schlimmsten Fall. Ändert noch immer nichts an der Tatsache, dass ich mein Paradies verlassen muss." Dabei weiß sie nur zu gut, dass der nächste Murgang ihr Haus zerstören könnte. Weil der Mensch der Natur unterm Strich nur wenig entgegenzusetzen hat.

Autor: Matthias Ebert, ARD-Studio Genf

Stand: 25.11.2024 11:44 Uhr

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