Mo., 06.02.17 | 04:50 Uhr
Das Erste
Serbien: Undichte Balkanroute
Ahmad Usmani ist 19 Jahre alt. Vor einem Jahr besaß er noch einen Handyshop in Jalalabad, Afghanistan. Dann wurde er von der Taliban angegriffen, schwer verletzt. Schließlich hat er Afghanistan verlassen und konnte sich bis nach Serbien durchschlagen. Seit drei Monaten sitzt er in Belgrad fest. Wie Tausende andere Flüchtlinge auch. Ihre Unterkunft: eine Lagerhalle, ohne Toilette, ohne Strom, ohne fließendes Wasser.
Es ist eiskalt. Will Ahmad duschen, muss er sich bei einem ambulanten Arzt eine Bescheinigung holen, dass er Läuse habe. Nur so kann er alle paar Wochen einmal eine mobile Duscheinheit benutzen. Manchmal gibt es Tage ohne eine warme Mahlzeit. Ahmad wartet darauf, dass er einen Schleuser findet, der ihn weiter nach Westeuropa bringen kann. Die serbischen Behörden schauen weg. Darko Jakovljevic (ARD Wien) über ein Flüchtlingsschicksal auf der Balkanroute.
Morgens, gegen halb Zehn, bei eiskalten minus sieben Grad. Niemand kriecht bei diesen Temperaturen gerne aus seiner Decke heraus. Viele schlummern weiter. Geschätzt hausen hier: eintausend junge Männer. Schon seit Monaten, illegal. Woher sie genau kommen, das wissen nur sie selbst. Ahmad Usmani, 19 Jahre alt. Er wollte schon längst in Deutschland sein. Maximal eine Nacht wollte er in dieser Baracke in Belgrad verbringen. Jetzt lungert er hier schon seit dreieinhalb Monaten herum. Fiebrig, Krank. Acht Mal hat Ahmad es versucht in Richtung Deutschland aufzubrechen. Acht Mal ist er gescheitert.
Duschen darf nur wer Läuse hat
Vor den Lagerhallen waschen sich Flüchtlinge. Zitternd in der eisigen Kälte. Keine Toilette, kein Waschraum. Wer eine heiße Dusche wie Ahmad sucht, muss erst einmal zu einem ambulanten Arzt. Unweit des Lagers steht ein LKW einer Hilfsorganisation, darin ein kleines Sprechzimmer. Ahmad muss sich eine medizinische Notwendigkeit bescheinigen lassen, für eine heiße Dusche. Ärzte bescheinigen, wenn etwa Läuse gefunden werden. "Und was ist das?" "Ich wurde operiert, weil ich von den Taliban angeschossen wurde." "Wie lange ist das her?" "Ungefähr acht Monate." "Wo ist das passiert?" "In Afghanistan. Manchmal bekomme ich deswegen immer noch Panik." "Sein ganzer Bauchraum musste aufgemacht werden", erklärt Marko Isailovic von Ärzte ohne Grenzen. "Er sagt, sein Darm musste verkürzt werden. Aber es gab dann keine Nachbehandlung mehr." "Als ich nach der OP aufwachte", erzählt Ahmad Usmani, "da war mir klar, ich muss weg aus Afghanistan, ich hatte Angst."
Auf diesem Papier steht: Ahmad hat Läuse. Zwar unangenehm, aber nur so gelangt er hier hinein, endlich. Sieben solcher Duschkabinen gibt es in Belgrad, am Tag werden insgesamt 40 Migranten hineingelassen. Ärzte wählen die Bedürftigen aus. Und trotzdem warten jedes Mal am Eingang mehr als hier hineindürfen. Die serbischen Behörden, so scheint es, tun alles, um Flüchtlinge abzuschrecken. Diese werden kaum noch mit dem Allernötigsten versorgt. Wer Glück hat, erwischt im Massenandrang eine heiße Mahlzeit am Tag. Und die kommt von einer Hilfsorganisation, der einzigen, die im Zentrum von Belgrad sich um Tausende Flüchtlinge kümmert. Die Regierung sagt, die Illegalen könnten jederzeit ein warmes Bett finden, in einem der 17 regulären Camps in ganz Serbien, die auch mit Geldern der EU gebaut wurden. Wie hier am Stadtrand von Belgrad. Doch es halten sich Gerüchte, dass Illegale von hier aus abgeschoben werden. Das hält viele ab.
Gewalt und Angriffe auch in Europa
Ahmad besucht eine Familie, die ihm sehr nahesteht. Für die Kleine war er wie ein großer Bruder, auf der gemeinsamen Flucht. Letztes Jahr, als sie Bulgarien durchquerten. Ahmad besaß ein Handygeschäft in Jalalabad in Afghanistan, die Taliban waren hinter ihm her, weil sein Vater für eine deutsche Entwicklungshilfe-Organisation arbeitet. Er musste fliehen. Auf der Flucht wurden sie in Bulgarien überfallen. Blutig geschlagen, bulgarische Schlägertypen waren das, sagt der Freund, der mitfilmen konnte. Hier im hellblauen T-Shirt, das bin ich, sagt Ahmad, ständig wurden wir in Bulgarien angegriffen. "Einer der Männer machte eine Faust und wollte auf meine Tochter einschlagen", berichtet Hassan Fazili. "Ich hab‘ sofort ihren Kopf nach unten gedrückt. Und die Faust erwischte meine Schulter." Mutter und Tochter immer noch traumatisiert. "Ich hab‘ mich so geschämt, vor meinen Töchtern", erzählt Fatima Hussaini. "Ich hatte ihnen doch erzählt: In Europa, da sind wir sicher. Als Mutter kann ich mir das nicht verzeihen, dass ich meine Töchter nicht vor einer solchen Situation bewahren konnte." Ahmad verabschiedet sich. Er will hier, im regulären Camp, nicht bleiben. Er will zurück, ins Zentrum von Belgrad. Nur dort kann er Schlepper finden. Für einen weiteren Versuch.
Das illegale Lager, wieder ein bitterkalter Abend. Auf einmal macht sich eine Gruppe auf, mit gepackten Sachen. Keine Hundert Meter weiter, vom Lager: der Belgrader Hauptbahnhof. Die Polizei sieht zu. Unternimmt nichts. Auch wenn offensichtlich ist: die Männer wollen nach Ungarn, illegal, eine andere Möglichkeit haben sie nicht. "Ich kann kaum gehen", klagt Javid Afghan. "Ich hab‘ Bisswunden am Bein, das waren Polizeihunde. Ich kann nicht mit." Seine Freunde aber hält niemand auf: ihre Tickets bis ins Grenzgebiet zu Ungarn sind bezahlt und Schlepper, sagen sie, würden den Grenzzaun aufschneiden. Noch heute Nacht.
Ignorieren, Wegschauen, nichts tun
Wir wollen von der serbischen Regierung eine Erklärung, besuchen eine Pressekonferenz des Staatssekretärs für Soziales. "Für uns ist es so, als wäre die Balkanroute weiterhin offen", sagt Nenad Ivanisevic, Staatssekretär im serbischen Ministerium für Arbeit und Soziales. "Uns ist egal, wie die Migranten heißen, ob sie jeden Tag ihre Namen ändern, oder alle zwei Jahre". Im EU-Anwärterland Serbien erklärt sich die Regierung für nicht zuständig: für das Flüchtlingsproblem im Land. Ignorieren, Wegschauen, Nichts tun – scheint die Devise. Doch täglich kommen 50 bis 100 neue Flüchtlinge in Belgrad an. "Serbien schafft das nicht", meint Ahmad Usmani. "Es sind schon so viele hier und es kommen noch mehr. Über Griechenland und Bulgarien bis hierher." In der Lagerhalle: beißender Rauch, kaum Luft zum Atmen. Alles nur, um ja nicht im Schlaf zu erfrieren. Alle hier haben es versucht, illegal weiterzukommen. Alle sind mehrmals gescheitert. Und doch will keiner aufgeben. Auch nicht Ahmad. Vor einem Jahr hat er seinen Handyladen in Afghanistan verkauft. Noch hat er davon Geld übrig, das er für Schleuser ausgeben will. Ahmad will es unbedingt schaffen. Seine Chancen stehen schlecht.
Stand: 13.07.2019 20:58 Uhr
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