So., 19.05.19 | 19:20 Uhr
Das Erste
Singapur: Der Urwald kehrt zurück
Singapur wird immer grüner, das ist erklärte Politik des Stadtstaates. Mit den Baumpflanzaktionen und der Fassadenbegrünung kommt aber auch ein Problem in die Stadt. Denn es sind nicht nur Schmetterlinge, die aus den nahegelegenen tropischen Wäldern zurückkehren, sondern auch Leguane und Schlangen. Wilde Tiere in der Großstadt – mit der Patrouille der Tierretter unterwegs. Sandra Ratzow, ARD-Studio Singapur
Eine Großstadt im Grünen: Das ist Masterplan und Staatsdoktrin in Singapur. Schön und gut, sagt Kalai Vanan vom Wildtier-Rettungsdienst Acres: Aber mit dem Dschungel kommen eben auch die Dschungelwesen zurück wie Affen, Schlangen und Fledermäuse. Fast 9.000 Anrufe bekommen die Tierretter jedes Jahr, Tendenz steigend.
Der erste Job heute: diese Schule. Kinder haben einen Waran entdeckt. Er soll er sich bei den Toiletten verstecken. Ausgewachsen können die Echsen bis zu drei Meter lang sein. Und ein Biss ist extrem schmerzhaft. Doch das hier ist eine Baby-Version und ziemlich harmlos. "Wenn man sie in Ruhe lässt, sind sie überhaupt nicht gefährlich", sagt Kalai. Doch die Schulsekretärin ist da ganz offensichtlich anderer Meinung. "Ich hatte Angst. So was habe ich noch nie gesehen. Ich glaube, die Schüler hatten auch Angst. Ich habe mich hier 45 Minuten nicht vom Fleck bewegt, auf Hilfe gewartet und das Ding nicht aus den Augen gelassen."
Wie viele wilde Tiere verträgt die Großstadt?
Kalai wird den kleinen Waran am Rande der Stadt wieder aussetzen. Aber vorher muss er noch ein paar Missverständnisse klären. "In dem Moment, wo Du versuchst, das Tier zu fangen oder zu schlagen, wird es sich verteidigen wollen. Das Fangen sollte man Profis überlassen. Viele Leute machen das falsch und wundern sich dann, dass das Tier aggressiv wird."
Stadt im Grünen statt Beton-Dschungel. Doch wie viele wilde Tiere verträgt ein Großstädter? Einen Pangolin, der wie hier über das Gelände der Universität spaziert, finden die meisten Singapurer noch irgendwie putzig. Aber die Toleranzgrenze ist schnell überschritten. Deshalb erlebt das Team auch immer wieder böse Überraschungen. Wie beim nächsten Fall. Eigentlich geht es um diese völlig harmlose Gartenschlange. Doch dann entdeckt Kalai ein riesiges Netz mit toten Fledermäusen. "Oh no". Das habe der Gärtner empfohlen, sagt die Hausbesitzerin. Die Fledermäuse würden stören, wenn die Familie abends auf der Terrasse sitze. Fledermäuse. Sie sind in Singapur vom Aussterben bedroht, weil sie nicht genug Lebensraum finden. "Das ist wohl mit das Schlimmste, das ich je gesehen habe" meint Kalai. "Die Fledermäuse sehen das Netz nicht und verfangen sich darin."
Das passiert hier nicht zum ersten Mal, ist sich Kalai sicher. Er ist stinksauer. Das Netz muss weg. Ob das von Dauer ist? Kalai ist unsicher. Singapurer seien schon sehr verwöhnte Großstadtmenschen. Stets blitzblanke Straßen und klinisch reine Shopping Malls. Alles müsse immer modern und perfekt sein. Sogar die Natur. "Die Leute wollen am liebsten nur Libellen und Schmetterlinge sehen und morgens Vögel singen hören, aber so funktioniert Natur in den Tropen nun mal nicht. Denn natürlich zieht das auch andere Tiere an wie Schlangen, Warane, Otter usw. Wir versuchen den Leuten nahzulegen, toleranter zu sein, denn das wird einfach immer öfter vorkommen. Das lässt sich nicht verhindern."
Schlangen müssen zurück in den Urwald
Tiere und Menschen müssen zusammenrücken. Noch vor 50 Jahren hatte Singapur 1,6 Millionen Einwohner. Jetzt sind es 5,6 Millionen. Eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt. Der nächste Einsatz: Ein Kurzkopfgleitbeutler. Der lebt eigentlich an der Ostküste Australien und nicht in einer Wohnanalage in Singapur. Ein Knäuel aus Taschentüchern. Darin ein kleines Wesen, aber großer Lärm. Hat er schon gebissen? will Kalai wissen. Normalerweise beißen die. In der vergangenen Nacht hätten sie laute Geräusche vor der Wohnung gehört. "Das war seltsam", berichtet die Tochter. "Erst dachten wir, das sei ein Eichhörnchen, dann habe ich gesehen, nein ein Kurzkopfgleitbeutler. Kannte ich von Instagram." Und die Mutter ergänzt: "Sie sagte, das ist ein seltenes Tier. Wir müssen das melden."
Kalai ist nicht sicher, ob er die Geschichte vom Zufallsfund glauben soll. Singapur ist weltweit einer der Hauptumschlagsplätze für den Handel mit illegalen Haustieren. Jede Woche hat er zwei bis drei solcher Fälle. Auch der Kurzkopfgleitbeutler war sehr wahrscheinlich mal Schmuggelware. "Sie werden zusammengepfercht und unter den furchtbarsten Bedingungen geschmuggelt", sagt Kalai Vanan. "Darüber denken viele Leute nicht nach. Der illegale Handel trägt dazu bei, dass so viele Tierarten aussterben."
Die Nacht legt sich über den Großstadt-Dschungel. Die Tierretter haben noch einen Job. Im Kofferraum zischelt es: Diese Kobra muss ausgesetzt werden. "Sie sendet uns Liebesgrüße", erklärt Kalai. "Im Ernst, Das Zischen ist eine Warnung. Legt Euch nicht mit mir an. Sie hatte sich in eine Tiefgarage verirrt. Schlangen hätten zu Unrecht einen schlechten Ruf, meint Kalai. Nur wegen dieser Hollywood-Filme. In Wahrheit seien sie eher scheue Wesen, solange der Mensch sie in Ruhe lasse. "Wir bauen immer mehr Häuser und die Tiere müssen ja irgendwo hin. Also kommen sie oft auch in sehr dicht besiedelte Gegenden. Ausflippen oder die Tiere zu provozieren ist keine Lösung. Es muss einen Weg geben, miteinander zu leben." Die Kobra schlängelt sich zurück in den Urwald. Und auch für die Tierretter ist nun endlich Nachtruhe in der grünsten Stadt Asiens.
Stand: 19.05.2019 22:01 Uhr
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