So., 28.03.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Spanien: Europas größter Slum
Abends ist es Zakharia Errahmouni immer ein bisschen mulmig. Er hantiert nicht gerne mit den Kerzen. Für die Kinder ist das eigentlich zu gefährlich, findet er. Aber ein bisschen sollen sie noch spielen können, bevor es ins Bett geht. Alles soll so normal sein wie möglich. "Ich versuche, das Beste draus zu machen – vor allem wegen der Kinder. Sie sollen keine Angst haben und sich nicht anders fühlen als ihre Freunde im Kindergarten und in der Vorschule", sagt Zakharia.
Die Bewohner*innen protestieren für ihr Recht
Zakharias Viertel, die „Cañada Real“, zieht sich 16 Kilometer durch den Südosten von Madrid. Europas größter Slum, heißt es immer. Aber ob das stimmt, weiß keiner so genau. Denn die Cañada ist eine illegale Siedlung, ihre Hütten und Häuschen stehen in keinem Grundbuch. Madrid, die reiche Hauptstadt, hatte die Cañada fast schon ein bisschen vergessen – Bis im vergangenen Oktober plötzlich das Licht ausging.
"Licht ist kein Luxus, sondern ein Recht!", schreien sie. Seit Monaten haben sie keinen Strom mehr und nach dem knüppelharten Winter mit Minusgraden, reicht es ihnen. "Cañada!", ruft die Menge. Jetzt sind sie vom Stadtrand nach Madrid gekommen, auf einmal laut und sichtbar. Die meisten von ihnen sind Migranten aus Marokko oder Rumänien – aber auch Spanier, die von der Wirtschaftskrise aus dem Zentrum verdrängt wurden: "Wir haben Respekt verdient! Wir sind arbeitsame Leute und wollen ein normales Leben für uns und unsere Kinder!" Eine andere Bewohner*in ergänzt: "Wir sind jetzt schon seit Monaten ohne Strom. Wir haben die Schnauze voll!"
Das Problem ist, dass es für die illegale Siedlung gar keine Stromverträge gibt. Also auch keine Verpflichtung, den Strom wieder anzustellen. Das hat System, sagen die Demonstranten. Auch Zakharia Errahmouni ist gekommen. Seine größte Angst: Dass die Cañada und ihre Bewohner verschwinden sollen: "Ich lasse mich aber nicht vertreiben. Ich werde kämpfen. Ich geb‘ nicht auf."
Die Menschen im Slum leiden unter dem Drogenhandel
Für kleines Geld hat die Familie einen Generator gekauft. Wenn Zakharia den anwirft, räumt Najoua, seine Frau, schnell die Lebensmittel vom Kühlschrank ins Gefrierfach. Mit zwei, drei Stunden Frost kann man Milch oder Butter so noch ganz gut über die Runden bringen. Aber im Sommer wird das nicht mehr reichen. "Dann wird´s kompliziert. Dann müssen wir den Generator länger laufen lassen und das kostet enorm viel. Aber ich kann ja auch nicht ständig in den Laden rennen, um frische Sachen nachzukaufen", sagt Najoua.
Am nächsten Tag fahren wir durch ein Gebiet, das kaum hundert Meter hinter Zakharias Haus anfängt. Hinter jeder zweiten Mauer wird hier Marihuana angebaut, haben uns Nachbarn erzählt. Die Polizei zeigt öfter mal Präsenz, tut aber nichts gegen die Plantagen. Die Pflanzen brauchen enorm viel Licht. Der Strom wird von alten Leitungen abgeklemmt, die schon vor Jahrzehnten hier durchgebaut wurden – irgendwann kollabierte das Netz.
Warum 4000 Menschen, Familien mit Kindern, die nichts mit dem Drogenanbau zu tun haben, darunter auch leiden müssen – dazu wollte uns keine der zuständigen Stellen in Madrid ein Interview geben. Selbst die Vereinten Nationen interessieren sich für den Fall, vom Sonderberichterstatter für Menschenrechte kam ein erboster Tweet: "Es ist wirklich unverantwortlich, Kinder mitten im Winter ohne Strom zu lassen."
Von ehemaligen Schrebergärten zur Heimat vieler
Die Cañada Real gibt es seit 80 Jahren. Am Anfang war sie eine Ansammlung von Schrebergärten, und in vielen Teilen ist sie immer noch ein fast ländliches Idyll. Die Häuser sind nicht legal, aber ihre Bewohner sind gemeldet, die Kinder werden mit dem Bus in nahe Schulen gefahren. Doch mittlerweile ist die Stadt an die Cañada herangewachsen, ein Neubauviertel nach dem anderen entsteht direkt neben dem Hüttendorf.
Teile des Viertels wurden schon geräumt, und immer mal wieder werden Familien umgesiedelt. Victor Palomo, ein junger Anwalt, ist häufig im Viertel und besucht Mandanten. Seine Kanzlei vertritt rund ein Dutzend Bewohner, die hier nicht weg wollen: "Die Leute werden in Dörfer gesteckt, die mehr als eine Autostunde von Madrid entfernt sind. Und da gibt es dann zum Beispiel überhaupt keine Arbeit. Statt das Problem der Cañada Real zu lösen, verteilt man es einfach."
Zakharia hat sein Haus vor fast 20 Jahren selbst gebaut – es ist sein Traum, sein kleines Stück Spanien. Offiziell registriert war es nie, aber immer geduldet. Dass die Familie nun schon seit Monaten ohne Strom leben muss, wertet er als schlechtes Zeichen. Und es macht ihm Angst: "Wo soll ich denn hin? Hier steckt meine ganze Arbeit drin und mein ganzes Geld. Ich hab kein anderes Haus." Weg aus der Cañada Real? Das ist für Zakharia undenkbar. Die Cañada mag nicht immer und nicht überall ein guter Ort sein, sagt er. Aber sie ist nun mal unsere Heimat.
Autorin: Natalia Bachmayer / ARD Studio Madrid
Stand: 28.03.2021 20:03 Uhr
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