So., 16.06.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Türkei: Abbruchunternehmung Demokratie
Wie viel autoritäres Gehabe verträgt die Türkei? Das fragen sich nicht nur die Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul, das fragen sich zunehmend auch Parteianhänger des Ministerpräsidenten Erdogan. Ihm wird vorgeworfen, das Land wie seinen Privatbesitz zu behandeln. Kritische Journalisten werden verfolgt, unabhängige TV-Sender für ihre Berichterstattung bestraft, gigantische Bauprojekte gegen alle Widerstände durchgeboxt. Die Demokratie als Abbruchunternehmen. Ein Bericht von Michael Schramm, ARD Istanbul
Ein Staat zeigt seine Macht und lässt seine Polizeikräfte durch greifen. Tausende seiner Bürger werden mit Wasserwerfern und Gas vertrieben – so geschehen in Istanbul gestern Abend. Es ist dies der Höhepunkt einer seit zwei Wochen anhaltenden Staatskrise der Türkei. Was treibt Menschen in großer Zahl im ganzen Land auf Straßen und Plätze gegen eine Regierung, die erst vor eineinhalb Jahren mit klarer Mehrheit gewählt wurde? Eine Regierung, die ein Wirtschaftswunder entfesselt hat, wie es Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat.
Dr. Cem Erözü ist Architekt – wie sein Vater. Seine Vorschuljahre verbrachte er in Deutschland und besuchte später die deutsche Schule in Istanbul. Wenige Stunden vor der gestrigen Räumung des Gezi-Parks waren wir mit ihm am Ausgangspunkt der inzwischen landesweiten Demonstrationswelle – in jenem kleinen Stadtpark in Istanbul, dessen Fortbestand ein ganzes Land bewegt. "Dieser Platz hat gar kein Bedürfnis, einen Bau zu bekommen. Wenn wir uns vorstellen, in der Fußgängerzone sind Einkaufszentren und vielleicht 600 - 700 Meter von hier sind wieder jede Menge Einkaufszentren. Das braucht die Stadt überhaupt nicht." Dr. Cem Erözü stört, dass ein Ministerpräsident im fernen Ankara über die Köpfe derer, die hier leben hinweg, fast im Alleingang, die Bebauung diese Parks beschlossen hat. "Er zieht diese ganze Gemeinde, die Regierenden und seine Anhänger mit seiner Aussage, er weiß es besser und er entscheidet für das Volk. Über alles entscheidet unser Ministerpräsident. Wie ein Sultan in der osmanischen Zeit. So fühlt er sich auch."
Als Architekt bekommt Cem Erözü seit nunmehr einem Jahrzehnt das „System AKP“ selbst zu spüren. "Also, wir merken jetzt unter Kollegen, dass die namhaften Architekten nicht mehr so gefragt sind, sondern eher die jungen, die der AKP sehr nahe stehen. Die Baufirmen, die der Regierung nahestehen, bekommen natürlich die großvolumigen Bauaufträge und dann holen sie sich die Architekten, die natürlich auch im Kreis sind." Die Baubranche ist die Branche der AKP, hier geht es um viel Geld. Hier verhilft man sich gegenseitig zu Aufträgen und regiert durch – so auch im nur wenige Meter vom Taksim-Platz entfernten Tarlabasi. "Der Umgang des Staates mit den ehemaligen Eigentümern dieser Gelände ist nicht optimal. Ein Beispiel: Ein Besitzer eines fünfstöckigen Hauses kann mit dem Geld, das er vom Verkauf dieses Hauses bekommen hat, nicht einmal eine Wohnung oder einen Office-Raum von 80 Quadratmetern bekommen." An Istanbuls wohl sichtbarster Stelle, auf dem Camlica-Hügel, will die Regierung Erdogan eine Riesenmoschee bauen – im Stil des 16. Jahrhunderts. Sie wird das Bild der Stadt islamischer machen. "Die architektonische Richtung dieser Moschee ist falsch. Da zweitens auch der Platz dafür falsch ist, haben viele namhaften Architekten an diesem Wettbewerb nicht teilgenommen. Weil wir Architekten es nicht richtig finden, dass dort eine Moschee gebaut wird." "Will der mächtige Ministerpräsident sich da ein Denkmal setzen? "Das kann man sagen, ja."
Sie war eines der bekanntesten Nachrichtengesichter der Türkei: Banu Güven. 14 Jahre lang moderierte sie bei N-TV. Der Sender ist- wie häufig in der Türkei - Teil eines Wirtschaftsverbundes, und der bangte um Regierungs- Aufträge – da war kein Platz mehr für kritische Journalisten. Auch mit Banu waren wir vor der großen Räumung bei den Demonstranten. Sie sieht die türkische Presse insgesamt als weitgehend AKP-gesteuert an. "Die ganze Atmosphäre hier - die Zensur und Selbstzensur, freie Berichterstattung ist nicht mehr erlaubt. Ich habe aufgehört, weil ich meinen Gast, Frau Leyla Sanna, nicht in meinem Programm haben durfte. Aber ich habe dann gleichzeitig festgestellt, dass die Entscheidung über mich schon längst getroffen war." Nun muss sie sozusagen kleine Brötchen backen. Als freie Journalistin schlägt Banu Güven nun durch. In ihrem Blog versucht sie zur Sprache zu bringen, was in den offiziellen Medien kaum vorkommt. Und dafür sucht sie auch zum Beispiel das Gespräch mit Polizisten.
Zu ihrem „Landesvater“ hat sie eine klare Meinung: "Er entscheidet sich für alles, für eine Moschee in Camlica oder er ist gegen Abtreibung oder was man hier im Taksim bilden soll oder was man von Geschichte verstehen soll, was man von der Umwelt verstehen soll ....Er hält keine Kritik aus und das heißt, dass unser Ministerpräsident nicht so viel von der Demokratie versteht." Wie auch immer die Proteste gegen die islamisch-konservative Regierung Erdogan letztlich ausgehen werden. Schon jetzt sind sie für Banu Güven ein Erfolg. "Dass man gelernt hat, dass Demokratie für alle nötig ist, ist sehr wichtig, denke ich. Seit Ende Mai ist das Land ein anderes Land." Gezi-Park und Taksim Platz in Istanbul heute Morgen - am Tag 1 nach der Räumung: Die Bürger haben keinen Zutritt mehr, es herrscht Ausnahmezustand. Gleichwohl: Die staatlichen Behörden tun alles, um die nunmehr zwei Wochen andauernden Demonstrationen vergessen zu machen. Ob es ihnen letztlich gelingt hängt vom Verlauf der nächsten Tage und Wochen ab.
Stand: 15.04.2014 11:17 Uhr
Kommentare