So., 17.11.13 | 19:20 Uhr
Das Erste
Ungarn/Österreich: Obdachlose allein da draußen
Ungarns Verfassung musste eigens geändert werden, um ein Gesetz durchzubringen, das es erlaubt, Obdachlose, die auf der Straße leben, zu bestrafen. Für sie soll etwa verboten sein, an touristisch interessanten Stellen (z.B. in Budapest) zu kampieren. Für viele Beobachter ein weiterer Beleg dafür, dass Ungarns konservative Regierung zunehmend elementare Menschenrechte aushöhlt. Viele ungarische Obdachlose wandern inzwischen nach Österreich aus. Aber auch dort wird überlegt, die Gesetze nach ungarischem Vorbild zu verschärfen. Susanne Glass, ARD Wien
Es ist kalt geworden in Wien. Und der richtige Winter kommt erst noch. Wir sind mit Sozialarbeitern der Caritas unterwegs. Nachfragen, ob sie warme Schlafsäcke brauchen, andere Hilfe. Und ob es stimmt, was in Österreich groß in den Medien war. Ja, es stimmt! Die Polizei kommt jetzt öfter. Vertreibt sie von ihrem wenigstens ein bisschen wärmeren Plätzchen. Wildes Campieren im öffentlichen Raum ist in Wien seit Jahrzehnten verboten. Aber wohin sollen sie? Geschätzt 9000 Obdachlose gibt es in Wien. Und nur 5000 Schlafplätze. In der „Gruft“ Nummer 2 - so heißt dieses städtische Heim offiziell - werden auch Nicht-Österreicher aufgenommen. Und es werden immer mehr, die da kommen. Aus Rumänien, Bulgarien – und vor allem: aus Ungarn. Weil sie Angst haben vor der ungarischen Politik. Die Josef generell katastrophal findet. Und in Österreich der Sozialstaat eben gut funktioniert. „Hier kann man essen, trinken … ich sagen Eins A, Austria ist eins A.“ „Es ist so, dass es fast eine Verdoppelung vom Vorjahr zum heurigen Jahr gibt, von Ungarn, die hier in der 2. Gruft Schutz suchen“, erklärt Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas Wien.
Immer mehr obdachlose Zuwanderer also in Wien. Bei der Stadt heißt es: Wenn sie sich in großen Gruppen oder Zelten im Park aufhalten, greife das Kampierverbot. Prompt hagelte es Kritik: Österreich kriminalisiere Obdachlose so wie Ungarn. Der Zuständige sagt: Nein, aber irgendwann sei ein Limit erreicht. „Ich glaube bis jetzt war das ein Tabuthema“, meint Peter Hacker, Geschäftsführer von Fonds Soziales Wien. „Es war ja auch nicht eine Größenordnung, wo es einen besonderen Druck gegeben hat, darüber zu diskutieren. Aber ich denke, wenn man ein bisschen aufmerksam nach Europa hineinhört, dann merkt man, dass das jetzt in allen größeren Städten ein immer größeres Thema ist.“
Vor allem in Budapest. Die ungarische Regierung hat sogar die Verfassung geändert. Obdachlosigkeit allein, kann nun schon zu einer Straftat werden. Auch hier haben wir Sozialarbeiter begleitet. Von der Stiftung „Obdach“. Und dabei erfahren: Bis zu 15.000 Obdachlose gibt es in der Hauptstadt. Ihnen ist der Aufenthalt auf den meisten Straßen und Plätzen seit Mitte Oktober per Gesetz verboten. Aber wo sollen sie hin? Bei nur etwa 6500 Heimplätzen. Sie bietet an, ihm einen Schlafplatz in einer Notunterkunft zu suchen. Aber er will nicht! Weil er dort immer bestohlen werde. Er störe doch hier niemand. Dann taucht ein zweiter Mann auf. Präsentiert stolz: Den schönen winterfesten Schlafsack. „Hab ich mir selbst gekauft.“ Denn er lebt zwar wie sein Kumpel auf der Straße. Aber er geht jeden Morgen zur Arbeit. Als Zimmermann. Hat also ein regelmäßiges Einkommen. Jetzt will er uns das Foto seiner kleinen Tochter zeigen, die bei der Mutter lebt. Und wir sehen: Einen Menschen, der sich trotz seiner Obdachlosigkeit bemüht, ein Stück weit Normalität, Stolz und Würde zu bewahren.
Ganz anders das Bild, das der Bürgermeister am nächsten Tag vermittelt. Bei einer Pressekonferenz, sogar mit dem Chef der Malteser, erfahren wir: Obdachlose seien häufig krank, aggressiv, unzurechnungsfähig. Eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit. „Aber das bisherige Gesetz war zu schwammig“, sagt Istvan Tarlos, der Oberbürgermeister Budapest. „Daher nicht richtig zu exekutieren. Die Stadt hat nun eine Verordnung erlassen, die die verbotenen Straßen und Plätze konkretisiert. Sie wird konsequent umgesetzt. Sonst machen wir uns ja angreifbar.“ Kein Wort des Mitgefühls vom Bürgermeister oder dem Malteser-Chef mit den vielen Menschen, die durchs soziale Netz gefallen sind oder denen der Absturz droht. Gegenüber dem alten Zentralfriedhof stehen jeden Tag Hunderte für ein warmes Mittagessen an, das Krishna-Gläubige umsonst ausgeben. Die Polizei greift sich willkürlich einen jungen Mann: Ausweiskontrolle! „Ach, das ist doch normal! Die Jungs machen nur ihren Job! Immerhin lassen sie uns noch meistens in Ruhe!“
Noch! Dieses Wort hängt nun wie ein Damoklesschwert über allen. Seitdem sie zur Bedrohung für die öffentliche Sicherheit erklärt worden sind. Das gilt auch für diese junge Familie. Die Mutter hat zwar noch einen Gelegenheitsjob. Aber für die Miete hat es irgendwann nicht mehr gereicht. „Ja, wir sind obdachlos. Und natürlich leben wir jetzt ständig in Angst vor der Polizei. Wir müssen ja irgendwo in der Innenstadt einen geschützten Platz für die Nacht finden und heißes Wasser, um die Babynahrung aufzuwärmen.“
Wir hatten bei der ungarischen Regierung ein Interview angefragt. Und bekommen: Eine persönliche Führung vom Staatssekretär für Internationale Kommunikation durchs Budapester Vorzeigeheim für Obdachlose im 13. Bezirk. Er erklärt uns, das umstrittene Gesetz sei nur im Interesse der Obdachlosen. Dadurch könne man mit ihnen in Kontakt treten, um ihnen zu helfen. „Ja, es gibt eine gewisse Unfairheit bei der Beurteilung unserer Politik“, so Ferenc Kumin, Staatssekretär für Internationale Kommunikation.“ Aber ich kann das auch verstehen, weil es Veränderungen gab. Und die Leute müssen sich erst darauf einstellen. Aber unsere Verordnungen unterschieden sich durch nichts zum Beispiel von denen in Wien.“
In Wien will man das auf keinen Fall so stehen lassen. Hier gelte schließlich nur ein Campingverbot. „Wir haben keinerlei Strafgesetze oder sonstige Gesetze, in denen Obdachlosigkeit per se verboten ist“, sagt Peter Hacker, Geschäftsführer von Fonds Soziales Wien. „Also zu diesem Zynismus haben wir uns nicht durchgerungen.“ Und wenn in Ungarn dieses Gesetz hart umgesetzt wird, dürften noch viele versuchen, nach Österreich zu entfliehen. Es wird überall eng werden mit den Notunterkünften im Winter. Schon jetzt drängen sich – wie hier in Budapest - die Menschen jeden Abend in die überfüllten Schlafsäle. Er ist auf einem Auge blind. Die Invalidenrente hat man ihm gestrichen. Gerade hat er festgestellt, dass ihm jemand seine warme Decke aus dem Bett geklaut hat. Dies ist kein Vorzeigeheim der Regierung, sondern trister Alltag.
Stand: 15.04.2014 10:54 Uhr
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