So., 27.04.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Venezuela: Gespaltenes Land
Chavisten verprügeln Oppositionelle. Oppositionelle verprügeln Chavisten. Es gibt Demonstrationen gegen die Regierung. Und es gibt Demonstrationen gegen die Opposition. Über 40 Menschen starben in den letzten Monaten durch politische Gewalt. Auf beiden Seiten. Wir befinden uns in Venezuela, eigentlich einem der reichsten Staaten des lateinamerikanischen Kontinents. Aktuell aber ein Land, in dem Knappheit regiert. Ob Toilettenpapier, Milch, Grundnahrungsmittel oder Luxusartikel: Vieles ist nur schwer, manches gar nicht mehr zu kaufen. Ein Jahr nach dem Tod des Präsidenten Chavez regiert dessen Nachfolger Maduro ein Land, in dem Sozialismus nur noch auf dem Papier existiert und der wirtschaftliche und soziale Niedergang unaufhaltsam scheint. Unversöhnlich stehen sich zwei Lager gegenüber. Über einen Konflikt, der Venezuela zerreißen könnte, berichtet Walter Brähler (ARD Mexiko)
Mütter, die den Umgang mit Tränengas erlernen, Studenten, die Straßen blockieren, Sicherheitskräfte, die Proteste unterdrücken und Familien, die wochenlang auf Milchpulver warten müssen. "Wenn eine Regierung nicht einmal ihr Volk ernähren kann, taugt sie nichts", sagt ein Mann. Die Mittelschicht versucht die Regierung Maduro zu stürzen, die Oberschicht klatscht Beifall - aber auch die ärmeren Venezolaner sind unzufrieden. Kein innerer Frieden, Venezuela steckt fest in der Konfrontation. Mehr als 40 Tote …… und beide Seiten machen sich gegenseitig verantwortlich.
"Sie sind an der Macht, sie handeln ungesetzlich handeln und vergewaltigen die Verfassung, und deshalb ist das Volk auf der Straße", sagt die Studentenführerin Gaby Arellano. Die Chavistin Alejandra Benitez hält dagegen: "Wenn sie uns angreifen, müssen wir das dann erdulden? Müssen wir zusehen, wie sie unser Land anzünden?" Gaby Arellano ist populär in den besseren Vierteln von Caracas, obwohl sie selbst aus einfachen Verhältnissen stammt. Sie ist eine der Anführerinnen der Studentenproteste. Die Regierung Maduro müsse weg, aber nicht, weil sie sozialistisch sei. "Es wäre zu schön, hätten wir hier den Sozialismus, hoffentlich haben wir bald einen Sozialismus so wie in Chile. Hier gibt’s nur Propaganda, die Taten sehen anders aus." Eigentlich wollte Gaby in diesem Jahr promovieren, in Geschichte, aber der Protest geht vor. Sie gönnt sich keine Pause. Demonstrationen koordinieren, Skype-Interviews, Studentenversammlungen. Ihr Fahrer, ein Unternehmer.
Sie ist die Vorzeigesportlerin der Regierung Maduro, Alejandra Benitez, Olympiateilnehmerin im Fechten, letztes Jahr Sportministerin. "Wir bauen auf, wir zerstören nicht, aber das wolle die von der Opposition nicht wahrhaben. Sie zerstören die Straßen, die Häuser, sie zünden Schulen an. Wir glauben nicht, daß man so ein Land aufbauen kann." Ihr Alltag - wie immer, dort wo sie hinkommt hat die Revolte bisher nichts verändert.
Versammlung in der technischen Universität. Gaby ruft zur Kundgebung auf der Plaza Venezuela auf. Sie prangert die aktuelle Krise an. Mehr als 50 Prozent Inflation, Versorgungsengpässe, eine hohe Mordrate, Verletzung der Menschenrechte. Zuletzt geht es ihr nur ums eins: die Regierung Maduro muß weg.
"Aufbauen", dafür sei dieses Jugendkulturzentrum im Südosten von Caracas beispielhaft. Alejandra unterstützt es gerne mit ihrer Popularität. Workshops für Jugendliche aus ärmeren Vierteln, ein Musikstudio, Kunst, Sport. Es sei "offen" für alle, nicht nur für Anhänger der Regierung. "Es ist doch klar, das hier sind sozialistische Kollektive. Wir arbeiten gemeinsam und man lernt hier, daß man nur so große soziale Fortschritte erreichen kann." "Offen“ auch für Oppositionelle? Wohl kaum, die gelten als Faschisten.
Die Demonstration auf der Plaza Venezuela ist verboten worden. Gaby bleibt weg, zu riskant. Die Studenten ziehen sich in die Zentral-Universität zurück. Einer wird als Regierungsanhänger erkannt und fast gelyncht. Dann der Streit darum, ob der Verletzte medizinisch versorgt werden soll? "Er kommt in die Ambulanz! Er kommt hier hoch!" Drei angebrochene Rippen, Verletzungen im Gesicht und an der Wirbelsäule. Die Mehrheit ist für medizinische Hilfe, aber erstaunlich viele sind auch dagegen. Nicht weit davon entfernt: Regierungsanhänger greifen sich einen Studenten der Opposition, verprügeln und demütigt ihn – genauso erbarmungslos. Später fallen sogar Schüsse. Pressekonferenz der Opposition. Gaby prangert den wachsenden Terror durch die Sicherheitskräfte und durch bewaffnete paramilitärische Gruppen an. Und die barbarische Mißhandlung des Regierungsanhängers? "Ich war nicht in der Universität, aber das Video zeigt doch offenkundig, daß unser Freund mißhandelt und daß der andere Bürger gerettet wurde. Wir wollen nicht noch einen Toten."
Wie jeden Nachmittag, Alejandra trainiert in der Zentral-Universität, obwohl hier die Opposition dominiert, nicht die Regierung. Versperrte Türen für unsere Kamera. Sie ist erfolgreich als Fechterin, trotzdem wird die Ex-Ministerin von manchen hier abgelehnt. "Die Politik in Venezuela ist ziemlich „gestört“. Wenn mich jemand interviewen will, dann baut die Universität hohe Hürden auf, man muß mehrere Genehmigungen einholen, zum Direktor gehen, so wird es schwierig." Ressentiments - aber sie will sich nicht beirren lassen. "Ich kämpfe dafür, daß die Menschen friedlich zusammenleben, trotz unterschiedlicher politischer Auffassungen, daß wir miteinander reden. Mit dieser Konfrontation muß endlich Schluß sein."
"Ich glaube an den Dialog" sagt Gaby Arellano. "Aber in Freiheit und mit Rechten. Es ist schwer mit jemandem zu reden, der dich unterdrückt und die Verfassung vergewaltigt." Das nächste Ziel von Alejandra sind die Olympischen Spiele in Rio 2016. Sie könnte aber auch jederzeit als Zahnärztin arbeiten, den Abschluß hat sie schon. Sie glaubt fest, daß es auch in 5 Jahren noch eine "sozialistische" Regierung geben wird. "Die Leute haben gelernt, für ihre Sache zu kämpfen, für ihr Land, für ihre Ideale." "Viele glaubten der Regierung und haben für sie gestimmt" klagt Gaby Arellano. "Sie sind betrogen worden, jetzt sind sie für uns, die Opposition. Wir kämpfen nur gegen die Machtspitze." Der Dialog könnte ein Ausweg aus der Konfrontation sein, aber ernsthaft führt ihn bisher keine Seite. "Reden mit Maduro, während er auf uns schießt?" Nein!
Stand: 28.04.2014 15:27 Uhr
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