So., 23.11.14 | 19:20 Uhr
Das Erste
Syrien: Christen ohne Zukunft
Ein friedlicher Sonntagmorgen in Derik, im kurdischen Norden Syriens. Jeder vierte Einwohner hier ist Christ, nirgendwo in Syrien leben mehr Christen als hier in der Region. Die Stadt blieb bislang vom Krieg weitgehend verschont. Auch deshalb ist die Kirche so voll. Viele Christen der Umgebung mussten fliehen, etwas aus Al Raqqa, der neuen Hauptstadt des Islamischen Staates.
"Wir kommen aus Al Raqqa", sagt eine ältere Frau, "der IS hat unsere Kirchen niedergebrannt. Sie haben uns gesagt, wir sollen abhauen oder sie bringen uns um. Ich bin dann mit meinen Söhnen hier her nach Derik geflohen." Eine jüngere Frau meint: "Wir sind nirgends sicher vor ihnen, glaubt mir, auch in Europa nicht, nirgends. Aber alle Christen hier denken nur an Auswanderung."
In den Kurdengebieten hatten die Christen jahrzehntelang meist friedlich mit Muslimen und Jesiden zusammengelebt. "Die vom IS kommen im Namen des Islam, aber das ist kein Islam", sagt Priester Murad Murad. "Unser Volk kennt den Islam. Die haben nicht das Geringste mit ihm zu tun. Der Islam kommt nicht mit dem Schwert, er ist Barmherzigkeit und Liebe. Das sind doch keine Menschen."
Noch ist die Kirche in Derik intakt, die Stadt ruhig und weitgehend sicher. Ein paar Dutzend Kilometer weiter westlich sieht das ganz anders aus. Johan Cosar, von der Christen-Miliz "Assyrischer Militär-Rat", übersetzt: "Hier steht: Unter der Kontrolle des Islamischen Staates." Unter der Kontrolle des Islamischen Staates. Längst haben die Christen sich bewaffnet und kämpfen Seite an Seite mit den Kurdenmilizen gegen den IS. Einige Dörfer haben sie schon zurückerobert. Hier ist die Front: der Islamische Staat ein, zwei Kilometer entfernt. Man kann ihn hören.
Johan Cosar erklärt: "Salahedin ist ein Name. Entweder es sind Männer oder es sind Orte. Auf dem Walkie-Talkie ist der IS richtig intelligent. Die reden nicht offen." "Das heißt, man versteht es nicht?" "Du verstehst sie, aber es sind alles Geheimcodes", sagt er. Vor gut zwei Jahren kam Johan Cosar in die einstige Heimat seiner Familie zurück. Aufgewachsen ist er in der italienischen Schweiz. Auch er gehört zum assyrischen Volk, wie sich die Christen hier nennen. Jetzt trainiert er eine Christenmiliz für den Kampf gegen den IS. Cosar diente fünf Jahre als Unteroffizier in der Schweizer Armee. Der IS sei entschlossen, die Christen hier zu vernichten, meint er. In den Trümmern eines zurückeroberten Gebäudes ein IS-Graffiti: "Das nächste Mal bringen wir euch um."
Johan Cosar von der Christen-Miliz "Assyrischer Militär-Rat" sagt: "Das ist ein klares Signal an das assyrische und das kurdische Volk, hier wegzulaufen." "Also du glaubst, sie meinen das sehr ernst? Sie bringen euch alle um?" "Ja, das ist klar und deutlich."
Kurden und Christen haben einen gemeinsamen Feind. Die Kurden führen uns zwei mutmaßIiche IS-Kämpfer vor. Gefesselt, mit verbundenen Augen. Die Kurden wollen nicht, dass die Männer sehen, wer sie befragt. Beide sagen, sie hätten viele Menschen getötet. "Sie waren Christen und sie müssen zum Islam übertreten. Sonst werden sie enthauptet." Interviews mit Gefangenen sind problematisch. Doch diese Männer muss man zum Reden offenbar nicht zwingen. Sie bekennen sich freimütig und schildern: "Wenn wir eine Frau erbeuten, dann bekommt sie unser Führer, unser Emir. Manche davon heiratet der, nachdem sie zum Islam übergetreten sind, die anderen werden verkauft."
Zwanzig Kilometer trennen dieses christliche Dorf von dem Teil Syriens, in dem solche Regeln Gesetz sind. Milizionäre patroulieren am Dorfeingang. "Sutoro" heißt die christliche Polizeitruppe, vom alten aramäischen Wort für "Schutz". Vor der Revolution lebten 600.000 Christen allein hier in der Gegend, die Hälfte davon ist mittlerweile ausgewandert. Um die Dorfkirche kümmert sich Abu Imad, er ist stolz auf die lange Tradition der Christen im Mittleren Osten. Abu Imad, Kirchendiener im Dorf Miharkan sagt: "Das ist unser Land, das ist unser Erbe, wir wurden hier geboren, das ist unser Haus. Verlässt irgendjemand freiwillig seine Heimat?"
Wenn sie gewollt hätte, dann wäre Deutschland ihre neue Heimat geworden. Aber Abeer Aziz wollte nicht. Bei uns direkt ist ja noch nichts passiert, meint sie, und darum bleibt die vierköpfige Familie da. Die Tochter ist 16, der Sohn möchte nicht gefilmt werden. Das passiert häufig, seit viele junge Männer gegen den IS kämpfen. Abeers Mann sagt, er werde zur Waffe greifen, wenn der IS kommt. Seine Frau hofft, dass Christen- und Kurdenmilizen es gar nicht erst so weit kommen lassen. Abeer Aziz erläutert: "Ich habe vor allem um meine Kinder Angst, um meinen Sohn und meine Tochter. Gottes Wille wird so oder so geschehen. Wenn ich dem Tod hier entgehe, wer sagt mir, dass ich nicht anderswo auch sterbe? Der IS ist in Deutschland und in Amerika. Der IS ist überall."
Aber zumindest hier in diesem Dorf in der Nachbarschaft ist er nicht mehr. Vorerst. Christen und Kurden haben die Islamisten vertrieben, vorher hatten die noch die kleine Kirche gesprengt. "Wir nutzen die Kirche jetzt als Stellung für den Krieg", sagt Johan Cosar entschuldigend. Aber irgendwie ist es für ihn auch ein Sinnbild. Die Christen wehren sich jetzt. Johan Cosar, Christen-Miliz "Assyrischer Militär-Rat", erklärt: "Wir glauben oder wir sind sicher: Solange einer von uns hier steht und kämpft für diese Sache, solange können wir eine Zukunft haben."
Solange einer noch kämpft, gibt es eine Zukunft. Und darum robben immer mehr Christen in Syrien durch den Dreck, werfen sich in Deckung oder üben das Schießen. Die Christen kämpfen ums Überleben. Sie kämpfen nicht gegen den Islam, sondern gegen den sogenannten Islamischen Staat - einen Terrorstaat.
Eine Reportage von ARD-Korrespondent Volker Schwenck.
Stand: 24.11.2014 13:24 Uhr
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