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Tunesien: Radikalisierte Generation

Tunesien: Radikalisierte Generation | Bild: ARD

Nach langem Zögern und einigen Telefonaten hatte die Familie zugestimmt – nun sind wir auf dem Weg zu ihr, ins Dorf Ouslatia, gut zwei Autostunden südlich von Tunis. Der ältere Sohn Walid Kaabi bringt uns zu seinen Eltern – und hier wird uns schnell klar: diese Familie steht unter einem fürchterlichen Schock. Ein Foto vom 21jährigen Sohn Bilal, in der Hand der verzweifelten Mutter – es ist gerade mal vier Wochen her, dass er sich bei einem Selbstmord-Attentat in Libyen in die Luft gesprengt und mit ihm zwanzig Menschen in den Tod gerissen hat. Bqehra Kaabi, die Mutter, sagt: "Mein Sohn ist unschuldig, verantwortlich sind diejenigen, die ihn manipuliert haben. Diese gottlosen Menschen haben mit unseren jungen Männern Geld verdient und sie in den Tod geschickt."

Die Mutter hält das Foto ihres Sohnes Bilal in der Hand, der sich bei einem Selbstmordattentat in die Luft gesprengt hat.
Die Mutter hält das Foto ihres Sohnes Bilal in der Hand, der sich bei einem Selbstmordattentat in die Luft gesprengt hat. | Bild: SWR

Einen Abschluss als Verwaltungsfachmann hatte Bilal gerade gemacht und die Zukunft vor sich – doch dann begann die Geschichte seiner Veränderung, so, wie wir sie oft in Tunesien hören. Bilal besuchte eine Moschee, bekannt für salafistische Hassprediger. Im September verschwand er und tauchte im libyschen Benghazi wieder auf. Am 17. Oktober sprengte er sich mit einer Autobombe in die Luft. "Bilal war ein ganz normaler Junge", sagt sein Bruder Walid Kaabi, "hat Fußball gespielt und manchmal Alkohol getrunken. Doch vor einem Jahr änderte er sich, er ließ sich einen Bart wachsen, betete viel, ließ nicht mehr mit sich reden." Die Geschichte einer radikalen Verwandlung. Auf der Veranda haben sich Angehörige von anderen Jugendlichen versammelt.

Najeh Abdaoni etwa will von ihren Zwillingsbrüdern erzählen. Sie zeigt uns auf ihrem Handy martialische Fotos von ihnen: der eine, Khaled, kämpft für den islamischen Staat in Syrien, der andere, Walid, eifert ihm in Libyen nach. Eine klassische Jihadisten-Karriere - zunächst geht es ins Nachbarland Libyen zur militärischen Ausbildung. Najeh Abdaoni sagt: "Der erste Bruder hat seine Berufung im Jihad gefunden, wir wollten ihn stoppen, aber er hat mit seinen Ideen immer weiter gemacht." Die Familie ging zur Polizei – vergeblich. "Der andere Bruder wollte es ihm gleichtun", erzählt Najeh Abdaoni, "er hat gesagt: ich suche meine bessere Hälfte. Sie waren ja Zwillingsbrüder."

Zeitungsmeldung über das Selbstmordattentat von Bilal.
Zeitungsmeldung über das Selbstmordattentat des Sohnes Bilal. | Bild: SWR

Allein aus dem kleinen Ouslatia sind zehn Jugendliche in den letzten Wochen in den Jihad gezogen – alle nach Libyen. Und immer wieder sind Moscheen der Ausgangspunkt – salafistische Prediger haben hier zum heiligen Krieg aufgerufen. In  diesem Gotteshaus, sagt uns der Bruder vom Attentäter Bilal, sei Gehirnwäsche betrieben worden. Walid Kaabi erklärt: "In dieser Moschee haben sie unsere Jugendlichen zerstört, Bilal war nur 21 Jahre alt. Sie haben ihn völlig umgedreht."

Die Hauptstadt Tunis. Als Beispiel für einen demokratischen Übergang wird Tunesien gefeiert – aber das kleine Land ist auch zum größten Jihadisten-Exporteur geworden, um die dreitausend junge Tunesier sollen in Syrien, im Irak und Libyen kämpfen. Die Journalisten von "InkyFada" dokumentieren auf ihrer Internet-Seite, dass es nach der Revolution in Tunesiens Moscheen keine Kontrolle gegeben hat – die islamische Ennahda-Regierung habe die Extremisten toleriert. Das belegen solche Bilder: ein Salafisten–Kongress, in dem zum heiligen Krieg aufgerufen wurde. Mittlerweile sind solche Versammlungen verboten.

Das Geld für die Radikalen kommt aus Katar, karitative Organisationen wurden zur Geldwäsche benutzt. Walid Mejiri, Chefredaktuer von "Inkyfada", erzählt: "Katar hat die terroristischen Gruppen in Tunesien finanziert, wir haben sogar Aussagen von Terroristen, die sich beim Emir von Katar bedanken."

Im Innenministerium von Tunis  betont man, dass man seit einem Jahr viele Moscheen geschlossen und die Lage wieder unter Kontrolle habe. Große Sorge bereitet eine andere Frage: Was geschieht, wenn tausende Jihadisten wieder nach Tunesien zurückkehren? Mohamend Ali Aouri, Innenministerium Tunesien, meint: "Das ist eine Zeitbombe für uns. Wir können diese Leute an der Ausreise hindern, aber was ihre Rückkehr angeht – das ist ein Problem, das die internationale Gemeinschaft zusammen lösen muss."

Der Vater von Bilal.
Der Vater von Bilal. Die Familie glaubt, der Sohn sei einer Gehirnwäsche unterzogen worden. | Bild: SWR

In Ouslatia denkt man über solche Fragen nicht mehr nach – hier trauert eine Familie um ihren Sohn, der zum Mörder geworden ist. An der Wand hängt noch ein Bild aus glücklicheren Tagen, nun herrscht nur noch ohnmächtige Wut. "Ich werde keine Ruhe geben, bis die Verantwortlichen dafür bezahlen, was sie meinem Sohn angetan haben", sagt Brahim Kaabi, Bilals Vater, "das schwöre ich." Doch die Hassprediger haben Ouslatia verlassen und sind abgetaucht – zurück bleiben eine fassungslose Familie und eine völlig verzweifelte Mutter.

Ein Bericht von ARD-Korrespondent Stefan Schaaf.

Stand: 24.11.2014 13:24 Uhr

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