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Bolivien: Der Seilbahn-Boom in den Anden

Bolivien: Der Seilbahn-Boom in den Anden | Bild: SWR

Lateinamerika entdeckt gerade die Seilbahn als neues Transportmittel. Etwa in La Paz, dem Regierungssitz  Boliviens. Sie ist dort viel mehr als nur eine Touristenattraktion. Um die Seilbahnstationen entstehen neue urbane Klein-Zentren. Über die immer populärer werdende "U-Bahn der Lüfte" berichtet ARD-Korrespondent Michael Stocks, Studio Rio de Janeiro

Seilbahnstation in La Paz
Bitte Einsteigen ! | Bild: SWR

"Bitte einzutreten" – in ein völlig neues Lebensgefühl in La Paz. Dem Himmel waren die Menschen hier schon immer ganz nah. Aber seit hier auf rund 4.000 Meter Höhe österreichische Seilbahntechnik das 400 Meter tiefer gelegene La Paz und El Alto auf der Hochebene verbindet, ist das noch viel wörtlicher zu nehmen.

Die Seilbahn läßt die Städte und Menschen zusammenrücken

Das ist das übliche Verkehrschaos auf den Straßen. Kaum ein Vorankommen dazu extreme Abgasbelastung. Sonia kommt aus einem Randbezirk von El Alto, arbeitet aber seit über 20 Jahren unten, in La Paz, so wie viele aus El Alto. Seit es den "Teleferico", die Seilbahn gibt, ist das Pendeln fast schon ein Vergnügen geworden. Pro Fahrt spart Sonia weit über eine Stunde, kein Stress, kein Lärm, mehr Sicherheit. "Ich wollte den Teleferico eigentlich nie benutzen. Ich hatte Angst abzustürzen. Aber vor einiger Zeit hatte ich in meiner Familie einen Notfall und musste schnell nach Hause. Es hat super funktioniert. Seitdem fahre ich immer mit der Seilbahn."

Hier unten arbeitet Sonia als Hausmädchen. Die Lebensqualität in der Andenstadt, sagt sie, ist seitdem es das neue Verkehrsmittel gibt, deutlich angestiegen, die Zwillingsstädte rücken näher zusammen – auch die Menschen, egal aus welcher Schicht sie kommen. Drei Linien gibt es bislang, eine hält fast direkt am größten Shoppingcenter von La Paz. Da, wo bis vor einem Jahr fast nie jemand aus El Alto vorbeikam. Das ist nun ganz anders. "Viele Leute aus El Alto verbringen einen ganzen Tag hier", erzählt Juan Patino, Manager vom MC Shopping Center. "Sie kommen gegen zehn Uhr am Vormittag, gehen hier ins Kino, essen anschließend zu Mittag, gehen shoppen und bowlen und in der Nacht nehmen sie wieder die Seilbahn und fahren zurück nach Hause, nach El Alto. Die Umsätze hier sind rasant angestiegen."

Mal eben in El Alto einkaufen gehen

Gondel der Seilbahn über Häusern
Die drei Seilbahnlinien haben die Lebensqualität in La Paz verbessert. | Bild: SWR

Aber das neue Verkehrssystem ist keine Einbahnstraße. Sergio hat in La Paz eine gutgehende Autowerkstatt. Und auch wenn die im reicheren Stadtteil liegt, wollen seine Kunden niedrige Preise. Um die zu gewähren, muss Sergio eben nach El Alto. "Deswegen fahren wir auf den Markt dort. Ihr werdet sehen, was man dort an Geld sparen kann. Dieser Kleinbus ist ein Arbeitsfahrzeug. Dem Besitzer ist es egal, ob da Originalteile oder andere eingebaut werden." Mit einem Kollegen unterwegs zur nächsten Seilbahnstation. Wegen eines Ersatzteils nach El Alto, früher ein riesiger zeitlicher Aufwand. Jetzt kein Problem. Die Fahrt dauert nur 10 Minuten und kostet weniger als einen halben Euro. "Mehr noch als der spektakuläre Blick zählt einfach, wie simpel es geworden ist, nach El Alto zu fahren. Es ist unglaublich. Früher mit dem Auto dauerte die Reise Stunden und am riesigen "Markt des 16. Juli" gibt es nie Parkplätze."Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas, aber die Wirtschaft wächst mit am schnellsten. Zu spüren ist das auch in El Alto. Die bessere Anbindung an La Paz hat das Wirtschaftleben angekurbelt, nicht nur auf dem größten Markt Lateinamerikas, wie sie hier sagen. Hier gibt es alles, nicht nur für Autofreaks. Sergio findet schnell das gesuchte Ersatzteil, eine Kopie. Zum halben Preis des Originals, der Mechaniker ist zufrieden. "Schnell wieder ab zum Teleferico, die Arbeit wartet."

El Alto verspürt einen Aufbruch

"Uniendo nuestras vidas" (Vereint unsere Lebenswelten), das ist der Werbespruch des Teleferico. El Alto, die Stadt der Armen wandelt sich spürbar. Der Teleferico wirkt wie ein Beschleuniger. Das Bild ändert sich. Und er sorgt mit dafür: Freddy Mamani ist der Stararchitekt in El Alto. Überall in der Ein-Millionenstadt baut er neue Gebäude. Er nennt es die neue Anden-Architektur. Am liebsten Häuser mit Ballsälen und Veranstaltungsräumen. Statussymbole für das neue Selbstbewusstsein in El Alto. Bunt muss es sein, die indianische Herkunft zeigen. Manche sagen, Freddy Mamani ist der Michelangelo der Aymara Indios. "Ich möchte einfach aus El Alto etwas Schönes machen. Ich wünsche mir, dass El Alto eines Tages die Bedeutung bekommt, wie die frühere Indiostadt "Tiwanaku". Der Architekt hat sich und El Alto jetzt schon Denkmäler gesetzt und er ist sich sicher, dass diese Stadt gerade erst zum Höhenflug angesetzt hat, auch Dank der Seilbahn. "Der Teleferico, dieses einzigartige Werk ist ein Aushängeschild für ganz Lateinamerika, nicht nur für Bolivien. Es ist eines der wertvollsten Geschenke, die uns Präsident Evo Morales gemacht hat."

Seilbahn über den Häusen von La Paz
Der weitere Ausbau des Teleferico ist bereits geplant. | Bild: SWR

Boliviens Präsident feiert. Seine Seilbahn und die großen Veränderungen. Vor genau einem Jahr ging die erste Strecke in Betrieb. Evo Morales hat lange dafür kämpfen müssen. Gegen Busbetreiber und Gewerkschaften. "Manchmal ist es schwer, das Bewusstsein einiger unserer bolivianischen Brüder zu verändern. Aber das ist wichtig, das muss akzeptiert werden. Es ist wichtig, nicht nur auf seinem Standpunkt zu beharren, man muss manchmal den Egoismus fallenlassen. Damit wir Bolivien verändern können." Die Seilbahn ein Staatsereignis. Zur Feier kündigt Präsident Morales den Bau von sechs weiteren Strecken in der Andenstadt an.

Sonia ist auf dem Nachhauseweg im jetzt schon längsten städtischen Seilbahnnetz der Welt. "Hat sich Dein Leben verändert?" "Ja, alles geht schneller. Ich komme früher heim." Der Teleferico macht Schule. Immer mehr Städte Südamerika wollen jetzt auch das schwebende Verkehrsmittel.

Stand: 04.05.2015 16:42 Uhr

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