So., 03.05.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Irak: Zurückeroberte Geisterstadt Tikrit
Lange war die irakische Stadt Tikrit in den Händen der Terrormiliz des sogenannten "Islamischen Staates". Nach langem Kampf haben irakische Verbände die Stadt kürzlich zurückerobert. Ein ARD-Team hat nun mit den wenigen Menschen gesprochen, die sich noch in den Trümmern und teilweise verminten Gebäuden aufhalten. Anhand selbst gefundener interner Unterlagen des IS lässt sich rekonstruieren, wie die Terrororganisation hier geherrscht und gewütet hat. Eine Exklusiv-Reportage von Volkmar Kabisch und Amir Musawy.
Bis vor vier Wochen regierte hier noch der Islamische Staat
Mächtig steht das Eingangstor über der Straße. Das Tor zu einer Geisterstadt. Tikrit liegt vor uns. Kaum vier Wochen ist es her, da regierte hier der selbsternannte Islamische Staat. Jetzt kontrollieren irakische Truppen die Straßen. Zusammen mit schiitischen Milizen haben sie vor kurzem die Stadt vom Terror befreit. Wir sind mit der schiitischen Badr-Miliz unterwegs. Niemand darf ohne deren Erlaubnis hier hinein. "Hier hat es heftige Gefechte gegeben", erzählt Abu Murtadir, "der Widerstand war sehr groß – vier Tage und Nächte lang."
Noch bewegen wir uns in einem Außenbezirk Tikrits. Ein Ort der protzigen Ruhmeshallen des gestürzten Diktators Saddam Hussein. Vor nicht einmal einem Jahr wurden hier an den Ufern des Flusses Tigris Hunderte Gefangene irakische Soldaten massakriert. Die Terrorgruppe IS stellte die Bilder online - blutige Propaganda. 1700 Männer sollen nach irakischen Angaben getötet worden sein. Zuvor waren sie vom IS auf eine Art "Todesmarsch" geschickt worden – unter den Augen der Tikriter Zivilbevölkerung. Jetzt, nach der Befreiung, reisen Angehörige hierher, um der Toten zu gedenken. "Das sind alles unsere Leute, unsere Söhne und Brüder", sagt Abu Murtadir.
Tikrit heute – eine Steinwüste
Wir fahren weiter ins Zentrum der Stadt, wollen erfahren, wie das knapp zehnmonatige Leben unter der Besatzung des Islamischen Staates wirklich war. In der Propaganda sieht alles "normal" aus. Eine Stadt wie jede andere – mit angeblich glücklichen Menschen und guter Versorgung. Und das ist Tikrit heute – eine menschenleere Steinwüste. Omar Sultan ist eine Art inoffizieller Bürgermeister von Tikrit und einer der ersten Zivilisten, der in die Stadt zurückkehrte. Er lebte einige Monate unter dem IS bevor er floh. Nun kooperiert der Sunnit mit den schiitischen Milizen. Er nimmt uns mit durch die Stadt, will uns zeigen, wie der IS in Tikrit wütete. Bevor die Schlächter kamen, sagt Omar Sultan, habe er eine Kette von Handy-Geschäften besessen. Sie wurden von den IS-Kämpfern geplündert und zerstört. "Etwa 25 Familien haben von diesem Laden gelebt. Deren gesamte Lebensgrundlage ist zerstört worden. Ohne die Familien aus anderen Filialen mitzuzählen."
Nur wenige Meter von Sultans Geschäft war die frühere Hauptattraktion der Stadt –ein Erlebnispark. "Das war der Ort in Tikrit, wo Familien zur Unterhaltung hingegangen sind. Und schauen Sie mal, das ist jetzt eine Ruine, eine Geisterstadt. Früher war das ein lachender Ort, jetzt ist es ein trauriger Ort." Nachdem Kämpfer des Islamischen Staates Tikrit Mitte Juni 2014 eroberten verhängten sie sofort strenge islamische Regeln für die Zivilbevölkerung, wie dieser Verhaltenskodex des IS zeigt. Bei Strafe werden alltägliche arabische Sprichwörter verboten: Der Ausspruch "Glückwunsch zum neuen Jahr!" ist dabei ebenso verboten wie die alltägliche Formel, einem Kranken zu sagen: "Das hat er nicht verdient."
Sprengfallen als Hinterlassenschaft
Bevor die Glaubenskrieger aus Tikrit vertrieben wurden, verminten sie die Stadt mit zumeist selbstgebauten Sprengsätzen – eine tödliche Falle, die auf jeder Straße und in jedem Haus morden soll. "Das ist ein Bombenzünder, der auslöst, wenn man drauf tritt. Der ist vollständig, er braucht nur Strom. Und bei dem hier ist die Batterie da. Die darf ich nicht knicken oder zusammendrücken, denn die ist wirklich scharf." Das Haus scheint eine Bombenwerkstatt der Islamisten gewesen zu sein. Überall liegen Batterien, Zünder und fertige Sprengfallen auf dem Boden und auf Tischen verteilt – fertig für den Einsatz gegen die "Ungläubigen". "Das ist eigentlich eine Süßigkeit für Kinder. Und die haben daraus eine Sprengfalle gemacht", erklärt Omar Sultan. Im Haus finden wir verschiedene Dokumente, Hinterlassenschaften von IS-Kämpfern. Darunter eine Art islamistisches Lehrbuch zur Verwendung in Ausbildungslagern des Islamischen Staates. Dort heißt es zum Zweck der Ausbildung: "Wir leben heute, Gott sei Dank, in diesem gesegneten Kalifat. Um das zu sichern, müssen wir das wahre Wort verkünden, damit wir eine einheitliche und gläubige Generation heranziehen, die die Glorie unserer Nation wiederherstellt."
Was diese gläubige Generation anrichtet zeigt uns Omar Sultan auf dem alten Friedhof Tikrits. Hier hatte der IS gewütet weil er jede Art von Totenverehrung kategorisch ablehnt. "Nicht einmal unsere Toten finden Frieden. Mit Baggern und Bomben haben sie die Gräber dem Erdboden gleich gemacht. Verstehst du?" Nach zwei Tagen verlassen wir Tikrit wieder. Noch immer sind die meisten Straßen und Häuser nicht von Minen und Sprengfallen geräumt. Die schiitischen Milizen scheinen es damit auch nicht eilig zu haben. Der einst blühende Ort wird wohl noch lange eine Geisterstadt bleiben.
Stand: 04.05.2015 16:50 Uhr
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