So., 11.01.15 | 19:20 Uhr
Frankreich: Nach den Terroranschlägen
Nach der Terrorserie in Paris sendet der Weltspiegel einen Schwerpunkt zum Thema.
- Wie verwundbar ist Frankreich?
- Die Deutsche Familie Sommer lebt seit 8 Jahren in der Nähe von Paris. Sie war Augenzeuge der Geschehnisse. Wie geht sie mit ihrer Angst um ?
- Der algerische Karikaturist Dilem war ein enger Freund der Zeichner von Charlie Hebdo. Dilem zeichnet für den Weltspiegel eine Karikatur und sieht darin einen Akt des Widerstandes gegen das sinnlose Töten.
Frankreich: Verwundbar
Achmed Merabek lag schon verletzt am Boden – der junge Polizist rief noch: Tötet mich nicht, doch die Brüder Kouachi laufen auf ihn zu und schiessen dem französischen Polizisten in den Kopf. "Seine Kollegen sagen, er liebte seinen Beruf", sagt Malek Merabek, Bruder des getöteten Polizisten, "Achmed war ein engagierter Polizist – er hat sich um alle gekümmert, auch um seine Mutter seit sein Vater gestorben ist." Trotz der Trauer – die Opfer haben eine Botschaft für die Täter. "Ich wende mich an alle Rassisten, Islamhasser und Antisemiten. Wir dürfen nicht Extremisten mit Moslems verwechseln. Verrückte haben keine Hautfarbe, haben keine Religion."
Jeder fünfte Franzose hat Migrationshintergrund, Frankreich ist ein buntes Land. Viele sind gut integriert, doch andere sind isoliert und abgehängt. Aus Frust wird Wut über den westlichen Lebensstil. Aus einer Karikatur wird Gotteslästerung. "Die haben unseren Propheten gezeichnet nackt, ganz nackt, mit einem Stern auf dem Hintern, Charlie Hebdo, merk dir, das darf man nicht. Wir Moslems gehen beten, wenn ich bete, sehe ich den Propheten wie ein weißes Licht."
Frankreich, Land der Vielfalt, aber auch Land des Terrors. Die Bilanz ist bitter, so kamen bereits 2012 bei einer Anschlagserie sieben Menschen uns Leben. Der 23jährige Attentäter bezeichnete sich als Mitglied von AL Quaida und töte unter anderem drei Kinder vor einer jüdischen Schule. Warum gerade Frankreich? "In Frankreich, würde ich argumentieren, ganz besonders, weil es dort zum Beispiel mehr Syrienkämpfer gab in den letzten Jahren als in jedem anderen europäischen Land", meint Peter Neumann, Terrorismusforscher, King’s College, London. "Weil dort die Gesellschaft gespaltener ist, weil dort die Gräben tiefer sind zwischen Muslimen und Nichtmuslimen als in fast jedem anderen europäischen Land."
Im französischen Gefängnis könnte sich Cherif Kouachi radikalisiert haben, saß 2008 zusammen mit einem bekannten Islamisten in Haft. Amey Coulibaly – ein Kleinkrimineller malischer Abstammung. Wurde wegen Diebstahls und Drogenhandels immer wieder verhaftet. Dies seien Terroristen neuen Typs, sagt der Polizeiberater Alain Bauer. "Ich nenne das hybriden Terrorismus, das sind Gangster-Terroristen oder man nennt sie Lumpenterroristen. Die Leute kommen von ganz unten. Das sind die, die irgendwann Auto nehmen und in die Menschenmenge fahren, die mit einem Messer einen Soldaten abstechen. Dieses Phänomen, diesen neuen Terroristentyp haben wir lange nicht erkannt."
Doch warum kamen die Geheimdienste den Verbrechern nicht früher auf die Spur. Warum fand man Verbindungen zwischen Kouachi und Coulibaly erst als es zu spät war, erst nachdem Coulibali in einem Supermarkt vier Menschen erschossen hat. Experten stellen den Ermittlern kein gutes Zeugnis aus. "Nach jedem katastrophalen Terroranschlag sagen die Behörden Erstens: Wir hatten die Täter im Blick, Zweitens: wir haben nicht die richtigen Schlüsse gezogen aus dem, was wir wussten. Drittens: das kommt nie wieder vor. Bis zum nächsten Mal", meint Alain Bauer.
Drei mörderische Tage lang haben islamistische Terroristen Paris in Atem gehalten. Die Taten kamen nicht aus dem Nichts, die Behörden wussten viel im Vorfeld. Nun muss sich der Staat fragen lassen, warum er seine Bürger nicht schützen konnte.
Autorin: Bettina Scharkus
Frankreich: Deutsche Familie
Barbara Sommer ist Hausmeisterin in einer Wohnsiedlung im Nordosten von Paris. Vor acht Jahren ist sie mit ihren Kindern nach Frankreich ausgewandert - der Arbeit wegen. Seit dem Terroranschlag vom Mittwoch hat sie immer beunruhigter die Flucht der Täter verfolgt. "Dann hat meine Tochter mir aus der Schule eine SMS geschickt - Pass‘ bitte auf dich auf, die Terroristen sind ganz in deiner Nähe - Dann habe ich gedacht, okay, alles klar. Und dann habe ich anschließend von einigen Mietern erfahren, dass die Straßen abgesperrt sind, dass man nicht gut durchkommt. Dann fühlt man schon, dass die Bedrohung ganz schön dicht herangerückt ist."
Und während die Polizei zehn Kilometer von hier, im Nachbarort Dammartin, die Terroristen einkesselte, saß Barbara Sommer in ihrem Hausmeisterbüro und versuchte, Ruhe zu bewahren. "In dem Moment, als die Mieter sich in ihren Häusern verbarrikadieren sollten, da habe ich auch gedacht - okay, wenn wir jetzt die Nachricht bekämen, wo würden wir hingehen? Dann spielt man das durch – auf die Etage, Matratzen auf die Erde, dass mich bloß keiner sieht. Ja, das sind keine schönen Gedanken."
Tochter Eva ist 18. Und tauscht sich mit ihren französischen Freunden im Internet minütlich über die Attentate aus. Sie schicken sich echte Neuigkeiten. Gerüchte. Verschwörungstheorien. "Ja, ich denke schon, dass wir uns da in 10, 20 Jahren noch sehr gut dran erinnern werden. Ganz besonders, wenn jetzt noch etwas passiert. Dann wird das wie der 11. September sein, denke ich mal." "Glaubst du, dass das nochmal passieren kann, nachdem, was du liest?" "Ich schließe es nicht aus, ich denke schon, dass da noch etwas passieren kann."
"Eva, hast du die Kerze gefunden?" Die Sommers hatten fest vor, sich heute in den Trauermarsch durch Paris einzureihen. Am Ende sind sie daheim geblieben. Aus Angst. Aber auch sie sind Charlie. Im Fenster der Hausmeisterwohnung. Mutter und Tochter versuchen per französischen Dauersondersendungen den Überblick zu behalten. "Wie wollen die denn kontrollieren, dass nicht jemand eine Bombe umgebunden hat?, fragt sich Eva. "Es kann ja jemand schon länger in einer Ecke sitzen und darauf warten, dass man sich da versammelt", meint Barbara Sommer. "Wirst du dich jetzt anders verhalten?" "Wenn es so weitergeht, ja", meint Eva. "Dann muss man besser auf sich aufpassen und vielleicht Paris vermeiden. Obwohl, die Geiselnahme gestern war 10 Kilometer von hier entfernt. So gesehen ist man fast nirgendwo sicher. Ja, ich habe Angst."
"Barbara, würden Sie sich jetzt in Deutschland sicherer fühlen?" "Das weiß ich nicht, das glaube ich nicht. Ich denke, dass das Risiko für Attentate in Deutschland genauso groß sein kann wie hier. Nur, in Frankreich – die Franzosen pochen ja immer auf Ihre Freiheit, auf ihre Gleichheit, auf ihre Brüderlichkeit – weil das so präsent ist, dieser Spruch, an jeder Schule angeschlagen oder eingemeißelt ist, ist das sehr präsent und man denkt: Aber doch nicht hier!" Die Sommers wollen in Frankreich bleiben. Aber sie haben Angst, dass das Land, in dem sie leben, sich auf Dauer verändern wird.Seit der Terror auch in ihrer Küche Einzug gehalten hat. In der ruhigen Wohnanlage im Nordosten von Paris.
Autorin: Julia Friedrichs
Frankreich/Algerien: Karikaturist Dilem
"Charlie Hebdo – das waren mehr als nur Kollegen. Freunde, die ich seit 1994 kenne", erzählt Ali Dilem. "Damals flüchtete ich nach Paris, weil ich in Algerien von islamistischen Terroristen bedroht wurde. Charlie Hebdo nahm mich auf. Sie haben mir damals die Lust am Zeichnen zurückgegeben."
"Meine Jugend war verloren. Ich fing an, gegen den islamistischen Terror zu zeichnen. Ich hatte natürlich sehr große Angst. Mittlerweile, wenn Menschen mir immer wieder drohen: "Ich werde dich töten!", denke ich einfach: "Fuck you, mach doch!" Das ist dramatisch, sowas zu sagen, und idiotisch, aber ich habe keine Angst mehr."
"Islamistische Extremisten sind Leute, die sich einer Ideologie unterwerfen. Sie haben nur Ablehnung und Hass auf Andere. Eine perfide Logik. Seit langer Zeit habe ich aufgehört, zu versuchen, sie zu verstehen. "Ich versetze mich mit dieser Zeichnung in den normalen Franzosen. Der glaubt nicht mehr: "Ohh, der Islam steht für Liebe, Frieden." Er denkt: "Verflucht, von wegen Liebe. Muslime, beweist es! Viele Franzosen sehen nur noch Bedrohung."
Autor: Stefan Schaaf
Stand: 12.01.2015 11:04 Uhr
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