So., 01.03.15 | 19:20 Uhr
Das Erste
Libyen: Zerrissenes Land
Amir will vorerst in Libyen bleiben. Obwohl immer weniger koptische Christen in die Kirche in Misrata kommen. Amir sagt, auch einige der jetzt ermordeten Kopten hätten hier gebetet. Man hätte die Gesichter wiedererkannt. Die Kirche zum Heiligen Georg bei Misrata ist das letzte Gottesthaus, das den ägyptischen Kopten in Libyen geblieben ist. Amir zögert noch. Aber viele Ägypter fliehen vor der Terrormiliz IS."Wir werden uns natürlich wehren. Aber wenn der IS wirklich auch hierher kommt, dann können wir nicht bleiben. Dann werden alle fliehen."
Staat - kaum vorhanden
Früher war die Kirche immer voll. Heute kommen eine Handvoll Männer zum Gebet. Die Familien bleiben zu Hause – aus Angst. Dabei sind Milizen aus Misrata vor der Kirche stationiert, um das Gotteshaus zu schützen. Sie konnten aber einen Bombenanschlag im Dezember 2013 nicht verhindern und auch nicht, dass der IS sich in Libyen immer weiter ausbreitet. Die Männer, die die Kirche schützen, gehören zu Misratas Küstenwache. In einem Nebenraum des Camps warten ägyptische Fischer auf ihre Abschiebung. Sie hatten ihre Netze ohne Erlaubnis in libyschen Gewässern ausgelegt – der Prozess zieht sich seit Wochen. Patrouille fahren, symbolisch Wache schieben; viel mehr können Misratas Sicherheitskräfte - Ex-Milizen in Uniform - nicht tun. Denn einen Staat gibt es kaum.
Die Spuren der Revolution von 2011 sind in Misrata noch immer deutlich zu sehen. Aber auch Aufbau. Das Alltagsleben funktioniert wie durch ein Wunder. Noch. In weiten Teilen des Landes hat die Regierung keine Kontrolle. Deshalb gelangen abertausende Flüchtlinge problemlos an Libyens Küste, wo sie dann in See stechen Richtung Europa. Manchmal finden wir ihre Leichen am Strand, berichtet der Mann von der Küstenwache. Manchmal zehn pro Monat, manchmal zwei. Vor kurzem haben wir ein Boot mit etwa 90 Menschen aufgegriffen", erzählt Omar al-Qolas von der Küstenwache in Misrata. "Da waren auch wieder Frauen dabei. Alle lebten noch. Aber es war ganz knapp."
Zu wenig Unterstützung von der EU
Libyens Küstenwache. Acht Boote für 1700 km Küste. Schiffskontrolle. Der Kommandant der Küstenwache klagt, Europa lasse ihn im Stich. Der Westen wolle mit der Regierung in Tripolis nichts zu tun haben, nur weil die von Islamisten unterstützt wird. Woher kommt die Mannschaft? Fragt er. Alles Syrer – aber offenbar keine Flüchtlinge. "Uns interessiert doch die Politik nicht", sagt Tawfik al-Skeir, Kommandant Küstenwache Misrata. "Wir wollen, dass die EU uns unterstützt, damit wir unsere Küsten kontrollieren und gegen illegale Auswanderung und Drogenschmuggel vorgehen können."
Diese Männer kommen aus Senegal, aus Niger, aus dem Chad. Sie wurden bei Tripolis an der Küste aufgegriffen. Wenn man sie fragt, dann sind sie alle irgendwie mit dem Bus hier her gereist. Von Schleppern haben sie nie gehört und Europa – das sei nie ihr Ziel gewesen. "Wir sind nach Libyen gekommen, um hier zu arbeiten", sagt ein Mann aus dem Senegal. "Nicht um nach Europa zu gehen?" frage ich. "Ich kann nicht für alle sprechen, aber wir wollten hier arbeiten." Der Polizist lächelt, als er diese Auskunft hört. "Glaub mir, das stimmt nicht", meint Muftah al- Baggar von der Einwanderungspolizei Misrata. "Wären sie legal hier, dann hätten sie einen Stempel von der Grenze. Aber sie kommen illegal durch die Wüste. Das ist organisiertes Verbrechen. Und die EU muss mit uns zusammenarbeiten, wir in Libyen bekommen das alleine nicht in den Griff."
Durchgangsstation und Ziel zugleich
Libyen ist Durchgangsstation für Flüchtlinge - aber tatsächlich auch ein Ziel. Das macht die Sache so kompliziert. Im Stahlwerk von Misrata arbeiten Männer aus Niger. Viele kommen seit Jahren, das Chaos in Libyen, den IS und die Gefahr nehmen sie in Kauf – bei ihnen zuhause ist es oft nicht besser."Das Land hier braucht diese Leute einfach", sagt der Stahlarbeiter Mohammed Ibrahim Bin Wafa. "Aber manchmal kommen zu viele, eben mehr, als wir brauchen, und dann sind sie arbeitslos." Und wenn es keine Arbeit in Libyen gibt, wächst die Versuchung, nach Europa aufzubrechen. Mohammed räumt ein bisschen auf. Das Stahlwerk selbst arbeitet nicht, es fehlt Strom. Durch das politische Chaos liegt die Wirtschaft in Libyen längst am Boden. "Wir können nicht noch mehr ertragen. Wir hofften schon die ganze Zeit, dass sich die Lage endlich beruhigt. Aber unsere Geduld ist jetzt wirklich am Ende."
Der Terror des sogenannten Islamischen Staates - das ist es, was koptische Christen fürchten. Amir will trotzdem nicht fliehen, verteidigt die Libyer sogar. Der IS – das seien doch alles Ausländer. "Was uns am meisten unter Druck setzt, das sind die Gerüchte, die Anrufe von den Familien zu Hause. Dann können die ägyptischen Kopten nicht mehr in Ruhe überlegen und vernünftig entscheiden. Und ich kann dann auf sie einreden, wie ich will, in der Regel gehen sie." Fliehen oder ausharren? Die einen wollen ohnehin nach Europa, die anderen hadern noch, ob sie nicht doch lieber in Libyen bleiben. "Ich gehe erst wenn ich nichts mehr verdiene oder wenn ein Libyer kommt und sagt: Hau ab." Amir hofft, dass dieser Tag nie kommen möge. Und dass er seine Schneiderei in Misrata wirklich nur bis zum nächsten Morgen schließen muss – und nicht für immer.
ARD-Korrespondent Volker Schwenck, ARD Studio Kairo
Stand: 03.03.2015 10:57 Uhr
Kommentare