Mo., 29.08.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Syrien: Waisenhaus im Untergrund
Das Spiel ist ganz einfach. Eine Variante von "Blinde Kuh". Erst werden zwei Kindern die Augen verbunden. Dann werden Buntstifte auf dem Boden verteilt. Und wer am meisten Stifte findet, hat gewonnen.
Wir sind in den Rebellenvierteln von Aleppo. Es ist eine Mischung aus Waisenhaus und Kindertagesstätte. Einige Kinder hier haben alles verloren. Andere kommen einfach nur zum Spielen.
Der Kinderclub heißt "Meine Kindheit"
"Als sie zuerst zu uns kamen, da waren sie in einem sehr schlechten psychologischen Zustand", sagt der Betreuer Mahmoud Khawatmi. "Sie haben bei nichts mitgemacht. Sie haben nicht gespielt, sie wollten für sich sein und haben sich verlassen gefühlt. Seit sie spielen und sich hier beschäftigen, ist es besser. Sie reden mit Gleichaltrigen und diskutieren mehr miteinander."
Asmaa Sary, das Mädchen links, ist 10 Jahre alt. Sie trägt schon Kopftuch. Jungs und Mädchen spielen getrennt.
"Ich komme hier her, weil es so viel Spaß macht. Ich hoffe, der Kinderclub bleibt erhalten. Am meisten mag ich es, wenn sie Geschichten vorlesen. Ich lerne immer Neues bei jeder Geschichte. Zuhause erzähle ich alles meiner Mutter und dann bekomme ich kleines Geschenk", sagt Asmaa.
Der Alltag ist Krieg mit Bomben und Toten
Das Gesicht des Jungen ist noch staubbedeckt. Er hat einen Bombenangriff hinter sich. Das ist der andere Teil der Wirklichkeit, die Kinder in Aleppo derzeit erleben müssen. Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde, werden verletzt, getötet.
Diese Bilder stammen von Oppositions-Aktivisten aus Aleppo. Sie berichten, in den letzten Wochen greife die syrische Luftwaffe fast täglich an.
Kinder haben keine Chance auf eine glückliche Kindheit in Aleppo.
Bunte Malblocks sind bei den sechs bis zwölfjährigen sehr beliebt. Abdel Aziz Aloush, der Mann links, ist Direktor des Vereins "Meine Kindheit". Er versucht, den Kindern wenigstens einige ausgelassene Stunden zu schenken.
In den von der Opposition kontrollierten Vierteln Aleppos kann Einkaufen gehen lebensgefährlich sein. Kinder auf der Straße riskieren, Opfer eines Angriffs zu werden. Häufiger als anderswo schauen die Menschen hier prüfend nach oben, zum Himmel: Der Gedanke an Flugzeuge und Helikopter ist immer da. Darum ist der Kinderclub unter die Erde gegangen. Nur hier sind sie einigermaßen geschützt.
Spielen ohne Tageslicht
"Hier unten ist es sicherer. Ein Problem ist aber der Heimweg für die Kinder. Das ist wirklich schwierig. Manchmal lassen die Eltern sie gar nicht erst herkommen, weil der Weg so gefährlich ist", erzählt Abdel Aziz Aloush, Direktor des Kinderclubs "Meine Kindheit".
Der Kinderclub ist ein behüteter Platz ohne Tageslicht. Wo Kinder sich nicht sorgen müssen. Wo die Angst verschwindet. Man mag gar nicht darüber nachdenken, ob der Ort wirklich sicher ist. "Unser Ziel ist es, die Kinder aus dieser nicht endenden Spirale der Gewalt herauszuholen. Weg vom Anblick des Bluts und der verstümmelten Leichen. Wir wollen sie an einen Ort bringen, wo sie einfach Spaß haben", sagt Abdel.
Nach vier Jahren Krieg in Aleppo verkriecht sich das Leben unter die Erde.
Die Kinder gehen nicht in die Schule
Die Kinder lesen eine Geschichte von einem Jungen, der seine Wasserflasche vergessen hat – natürlich eine Geschichte über das Teilen, über Mitmenschlichkeit. Abdalla ist neun, er geht schon lange nicht mehr zur Schule, wie viele andere Kinder hier.
"Das Schlimmste für mich ist, wenn es knallt. Wenn wir spielen und dann knallt es, dann verstecken wir uns immer", sagt Abdallaj Hariry. Und Yasmine Alabi, 11 Jahre alt, sagt: "Ich würde gerne weg aus Aleppo, wegen der Bombenangriffe. Wenn die nicht wären, dann würde ich gerne bleiben."
Die Kinder können sich nicht aussuchen, ob sie aus Aleppo fliehen oder ob sie lieber bleiben wollen. Die Erwachsenen führen einen Krieg, den sie nicht verstehen. Unter der Erde sind sie ein Zeit lang unbeschwert. Ganz normale Kinder.
Ein Film von Volker Schwenck
Stand: 12.07.2019 15:23 Uhr
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