Mo., 10.09.18 | 04:50 Uhr
Das Erste
Syrien: Vor dem Sturm auf Idlib
Der Sturm auf die letzte Rebellenhochburg in Syrien, steht wohl unmittelbar bevor. Idlib, dorthin zogen sich die Aufständischen aus Homs, Aleppo und aus Ost-Ghouta zurück. Alle Kriegsparteien einigten sich darauf, dass Idlib nicht angegriffen werden sollte. Mittlerweile leben dort rund drei Millionen Menschen, unter ihnen sollen 70.000 Bewaffnete der unterschiedlichsten Ausrichtungen sein – eingeschlossen.
Die syrische Regierung will zusammen mit russischer und iranischer Unterstützung die Kontrolle in der Region übernehmen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres ruft die Kriegsparteien zur Mäßigung auf, fordert humanitäre Korridore. Wie leben die Menschen in Idlib kurz vor dem Sturm auf die Region?
Unfassbar viel Leid liegt hinter ihm. Und doch kämpft sich Omar irgendwie durchs Leben. Vor drei Jahren floh der 14jährige in dieses Flüchtlingslager im Norden Idlibs. Als behindertes, schwer traumatisiertes Waisenkind. Aber immerhin war er in Sicherheit. In diesem Zelt verkauft er Lebensmittel und Getränke. "Ich arbeite hier Tag und Nacht. Knapp einen Euro verdiene ich damit pro Tag. Das reicht gerade so zum Überleben”.
Kaum Perspektiven für die Flüchtlinge
Hama vor drei Jahren. Omars Heimatstadt steht unter Dauerbeschuss. Russische Kampfjets, syrische Hubschrauber werfen ihre tödliche Fracht ab. Tagelang. Eine Fassbombe wird Omars Familie zum Verhängnis. Seine Eltern sterben, er wird schwer verletzt. "Ein Hubschrauber hat das Haus bombardiert, in dem wir wohnten. Die Leute haben uns noch vor den Luftangriffen gewarnt. Sie haben uns danach ins Krankenhaus gebracht. 15 Tage später bin ich aufgewacht, hatte das Gefühl, das etwas fehlt, bin dann aus meinem Bett gefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Mein Bein war amputiert.”
Drei Monate blieb er in der Klinik. Musste mit Krücken neu laufen lernen. Sein Körper ist mit Narben übersät. Auf seinem rechten Auge ist er blind. Ihn plagen Schmerzen. Jeden Tag. Seine jüngere Schwester bleibt wie durch ein Wunder unverletzt. Gemeinsam fliehen sie nach Idlib. Früher war Bushra eine Musterschülerin. Doch wenn Bomben fallen, bleibt Bildung auf der Strecke. "Ich hoffe, ich kann eines Tages zurück in die Schule. Aber das wird schwierig. Ich kann meinen Bruder ja nicht in dem Zelt allein zurücklassen." Die Elfjährige kümmert sich um ihn, so gut sie kann. Das Leben im Lager aber ist auf Dauer eine Qual. Ohne Perspektive und in ständiger Angst vor neuen Bomben. "Ich hoffe, wir können das Land eines Tages verlassen. Es macht mich so traurig, zu sehen, dass mein Bruder mit dem amputierten Bein und dem geschwollenen Auge jeden Tag arbeiten gehen muss."
Im Lager herrscht Angst
800 Familien leben in Kafir Losin an der Grenze zur Türkei. Hunderte Kinder. Es gibt das Nötigste zum Leben. Mehr nicht. Keine Schule, keine Bildung. Kaum Medikamente. Tristesse bestimmt den Alltag. Und die Sorge, vor dem, was kommen mag. "Wir haben gemerkt, dass die Luftangriffe wieder losgehen" erzählt Essam Abu Mohamed. "Es gibt im Lager große Angst vor allem um die Kinder und Frauen. Alle fürchten sich, wissen nicht, wohin, nachdem sie schon einmal vor den Bomben hierher geflohen sind." Es sind Kinder, die im Krieg am schlimmsten leiden. Allein in Idlib sollen es eine Million sein. Viele sind von Flucht und Leid traumatisiert, verwaist, entwurzelt. Keine Bildung, keine Perspektive. Sie schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch. In der vagen Hoffnung auf ein Leben ohne Bomben, Leid und Angst.
Fliehen will Omar nicht noch einmal. Die Grenze zur Türkei scheint dicht. Und in die Landesteile unter Assads Herrschaft will er nicht. "Ich weiß nicht, wo wir hinsollen", sagt er. "Aber natürlich würde ich gerne raus aus Syrien, um besser versorgt zu werden.” Omar träumt von einem ganz normalen Leben. Eines Tages, so hofft er, könnte er mit einer Prothese wieder besser laufen. Medikamente bekommen, die seine Schmerzen lindern. Doch das liegt nun in weiter Ferne.
Autoren: Daniel Hechler und Alexander Stenzel, ARD-Studio Kairo
Stand: 28.08.2019 02:16 Uhr
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