Mo., 11.01.16 | 04:50 Uhr
Das Erste
Nord-Syrien: Kommt die Offensive?
Die Erfolgsmeldungen häufen sich. Im Irak erobern Regierungstruppen Städte zurück. In Nordsyrien sind kurdische Milizen auf dem Vormarsch und die Terrorkommandos des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) in der Defensive. Deutet sich damit eine Wende im Krieg gegen die Terrorgruppe an?
ARD Korrespondent Volker Schwenck bereist Nordsyrien und berichtet von den Vorbereitungen für eine Offensive auf die Hauptgebiete des "IS". In der Stadt Hasaka vereinigen sich arabische mit kurdischen Milizen. Sie nennen sich "Demokratische Kräfte Syriens" und wollen das Land von islamistischem Terror befreien. Volker Schwenck, ARD Kairo.
Ende der Schreckensherrschaft des IS
"Ashab yurid" – der alte Schlachtruf des Arabischen Frühlings. "Das Volk will". In diesem Fall nicht den Sturz des Regimes, sonder nur ganz banal nach Hause. Al Hawl heißt der Heimatort dieser Familien in Nordsyrien. Bis Ende November hatte die Terrormiliz IS die kleine Stadt besetzt. Dann kamen kurdische und arabische Einheiten und machten dem Schreckensregiment der Terrormiliz ein Ende. "Wenn jemand zur Gebetszeit nicht in die Moschee ging, dann haben sie ihn ausgepeitscht", erzählt Linda, Flüchtling aus Al Hawl / Nordsyrien. "Einem kleinen Mädchen, das etwas gestohlen hatte, haben sie die Hände abgeschnitten."
Hawl, ihr Heimatort ist befreit. Aber zurück in ihre Häuser dürfen die Leute nicht. Sie sind in einer Schule im Nachbardorf, ein paar Kilometer entfernt, untergebracht und müssen warten. Die Kinder spielen Murmeln, aber die Erwachsenen werden zunehmend ungeduldig. So hatten sie sich ihre Befreiung nicht vorgestellt. Hawl ist eine Geisterstadt. Oder besser: militärisches Sperrgebiet. In den Häusern seien noch Sprengfallen, sagen die Befreier. Sie betrachten Hawl jetzt als ihre Basis, die Zeichen des IS sind noch überall präsent.
Araber und Kurden kämpfen gemeinsam
Der Mann mit dem gelben Abzeichen der Kurdenmiliz ist Araber. Gemeinsam befreiten kurdische und arabische Kämpfer die Stadt, gemeinsam bemannen sie den Checkpoint, etliche Kilometer hinter der Front. "Es gab ein paar Kämpfe, die Situation ändert sich dauernd", sagt Agab, einer der arabischen Kämpfer. "Vor einer Woche haben die IS-Leute versucht, sich im Nebel rüber zu schleichen. Aber unsere Leute waren auf der Hut."
Die Einnahme von Hawl ist ein Erfolg in der jungen Geschichte der sogenannten Demokratischen Kräfte Syriens, etwa 30.000 Kämpfer, Kurden und Araber. Hier im Norden des Landes grenzen kurdische und arabische Siedlungsgebiete aneinander. Beide Volksgruppen begegneten sich oft mit Misstrauen, seit der IS in arabischen Orten Unterstützer fand. Doch je grausamer die Extremisten wüteten, desto mehr Araber wandten sich ab. "Einige haben versucht, einen Keil zwischen uns zu treiben", sagt Hassan, selbst Araber. "Der IS hat damit anfangen, Kurden und Araber auseinander zu bringen. Aber wir sind alle Brüder."
Verhandlungen mit dem Assad-Regime
Die Terrormiliz IS ist der Hauptgegner der Demokratischen Kräfte Syriens, sagt ihr Sprecher. Mit dem Assad-Regime sei man nicht einverstanden – bekämpfen werde man es aber nicht. "Die internationale Gemeinschaft hat zu Verhandlungen zwischen der Opposition und dem Regime aufgerufen", erklärt Talal Sillu, Sprecher Demokratische Kräfte Syriens. "Wir haben einen politischen Vertreter in dieser Verhandlungsdelegation. Und wir werden die Ergebnisse der Gespräche mit dem Regime akzeptieren."
Der Kampf gegen den IS verdrängt im Norden den Kampf gegen das Regime. Auf dem Weg nach Kobane sieht man auch, warum. Die Orte hier hat der Krieg gegen die Terrormiliz IS verwüstet. Sabri Othman gehört zu den Kurden, die Kobane wieder aufbauen sollen. Von über 10.000 Häusern wurden fast 3.000 komplett zerstört. Der Wiederaufbau der Stadt ist eine Herkulesaufgabe – vor allem, weil bereits etwa 35.000 Menschen hier leben. Der Bau einer zweiten Bäckerei geht gerade wieder ein bisschen voran. "Zwei Monate stand hier alles still. Die Türkei lässt nichts über die Grenze. Früher durften wir wenigstens noch ein bisschen Zement und Stahl importieren, aber seit zwei Monaten gar nichts mehr."
Leben in Trümmern
Die Türkei grenzt direkt an Kobane – aber Unterstützung kommt von ihr nicht. Baustoffe, Medikamente – nichts darf eingeführt werden. Hilfsorganisationen beklagen, Lieferungen würden bewusst behindert. Die Menschen in Kobane leben in Trümmern – aber sie lassen sich nicht unterkriegen. Fawsi Scheichi und seine Familie leben ziemlich alleine in einem Ruinenfeld. Die eigene Wohnung wurde zwar nur wenig beschädigt – aber Nachbarn haben sie keine, weil die Nachbarhäuser unbewohnbar sind. Kurdische Politiker sagen, die Revolution habe den Kurden ungeahnte Unabhängigkeit gebracht. "Ich persönlich hab gar nichts von der Revolution", meint Fawsi.
Als 2011 der sogenannte Arabische Frühling auch Syrien entflammte, hatte niemand damit gerechnet, dass er das Land in Schutt und Asche legen würde. "Anfangs dachten wir, das alles dauert maximal ein Jahr, dann ist es vorbei", sagt Sabri Othman vom Wiederaufbau-Komitee in Kobane. "Jetzt kann es noch lange gehen. Haben wir noch Hoffnung? Wir haben gar keine andere Wahl." Mit dem IS hatten wir nicht gerechnet, sagt Sabri. Die Terrormiliz hat den Aufstand gegen Assad grundlegend verändert. Im Norden kämpfen Kurden und Araber gemeinsam und suchen mit dem Regime eine politische Lösung – bevor noch mehr Städte in Trümmern liegen.
Stand: 10.07.2019 12:22 Uhr
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