So., 09.05.21 | 19:20 Uhr
Das Erste
Syrien: Rakka – Vom Terror befreit, und jetzt?
Zurück auf dem Rasen oder dem, was davon übrig blieb. Für die Junioren des Rakka Fußballclubs ist es eine Premiere im alten Stadion nach langer Pause. Verdörrtes Gras, Spuren von Granatsplittern. Es riecht nach verwestem Fleisch. Während der IS-Herrschaft war es ein Ort von Folter, Leid und Tod. Auch einige Spieler haben ihre Liebsten in dieser dunklen Zeit verloren. Hamza Husseins Vater wurde hingerichtet. Er war ein bekannter Profispieler. Irgendwann einmal will der 14-Jährige in seine Fußstapfen treten.
"Ich vermisse ihn so sehr, mir fehlen die Worte dafür. Er hat hier gespielt. Ich habe ihm zugeschaut. Ich erinnere mich noch genau daran. Ich habe das Gefühl, er ist hier bei uns", erzählt Hamza.
Sportplatz war Ort der Folter
Essam Efeisen will dem jungen Team die Freude am Sport, am Leben zurückgeben. Der 45-jährige Ex-Profi durfte unter der Terrormiliz nicht mehr spielen, nicht einmal mehr Fußball im Fernsehen anschauen. Jetzt trainiert er die Jugendmannschaft und will nach vorne schauen: "Früher sind hier Menschen zusammen gekommen, die das Leben und den Sport liebten. Wir müssen dahin zurückkommen, zu Frieden und Liebe. Der so genannte Islamische Staat ist ja nicht mehr als eine dunkle Episode in der Geschichte von Rakka."
Eine Episode aber, die hier noch immer spürbar ist, auch dreieinhalb Jahre nach dem Ende des IS. Der Stadionmanager führt uns unter die Tribüne. Dorthin, wo einst die Umkleidekabinen waren. Die Terrormiliz errichtete hier ihr schlimmstes Foltergefängnis. Für die Öffentlichkeit ist die Anlage gesperrt.
Auch Essam sieht sie zum ersten Mal seit vielen Jahren. Hunderte Menschen wurden hier brutal gefoltert – mit Methoden aus dem Mittelalter. In den Toiletten wurden sie isoliert und eingesperrt. Manche auf engstem Raum, ohne Chance, sich noch bewegen zu können. Wie viele Menschen hier zu Tode kamen, weiß niemand ganz genau. Einige ihrer Namen finden sich noch immer in den Zellen. Verzweifelte Hilferufe vor dem sicheren Tod. "Es war furchtbar, das hier anzusehen. Hoffentlich wird sich das in unserer Geschichte nie wiederholen", sagt der Trainer des 'Home Security Club'.
Die Stadt erholt sich langsam
Rakka. Eine schwer traumatisierte Stadt. 2014 Hochburg des IS-Terrors. 2017
Symbol der Befreiung. Kurdische Einheiten übernehmen die Kontrolle nach wochenlangen Luftangriffen durch die USA. Seither kehrt das Leben zurück in die Ruinen, erblühen Plätze, auf denen Menschen einst bestaliasch hingerichtet wurden. Auch zwei von ihnen verloren ihren Mann durch den IS. Nun jähten sie hier Unkraut, legen neue Beete an.
"Dies sollte ein Platz der Blumen sein. Stattdessen haben sie hier Köpfe ausgestellt, um die Leute einzuschüchtern. Das erschüttert mich noch immer", erzählt Rama Abdalla und Um Usama fügt hinzu: "Wenn ich früher hier vorbeikam, hatte ich furchtbare Angst, war in Panik. Heute sehe ich die Blumen, Bäume, Menschen, Mütter, die ihre Kinder zum Spielen hierherbringen. Das ist ein viel besseres Gefühl."
Viele Einwohner*innen sind zurück in Rakka. Packen an beim Wiederaufbau. Auch wenn kaum internationale Hilfe fließt, die Menschen nehmen ihr Schicksal in die Hand, versuchen den Neuanfang aus Trümmern. Viele Märkte und Geschäfte sind wieder offen. Strom fließt zumindest ein paar Stunden täglich. Generatoren erledigen den Rest.
Sport als Symbol der Freiheit
Essam Efeisen steht jeden Morgen in einer Bäckerei. Ein Knochenjob von vier bis zehn, den er zum Überleben braucht. Nicht einmal zwei Euro verdient er so pro Tag. Das muss reichen, um seine Familie mit fünf Kindern durchzubringen. "Es ist anstrengend, sehr, sehr anstrengend. Wenn ich nach Hause gehe, bin ich totmüde. Aber ich muss das für meine Kinder machen", sagt Essam.
Ein Tor nach einem langen Tag lässt ihn die Müdigkeit vergessen. Für ein Weltklassespiel bleibt Essam Efeisen auch mal spät abends auf. Heute steht Chelsea gegen Real Madrid auf dem Programm. Gemeinsam mit seinen Jungs genießt er die Freiheit, solche Spiele anzuschauen, zu rauchen, ganz ohne Furcht vor Repressalien selbst ernannter Gotteskrieger.
"Sport ist nun mal unser Leben. Wir fühlen uns frei, wenn wir solche Spiele oder Trainingseinheiten anschauen. Und wir schauen sie an, ohne Angst zu haben, ganz ohne irgendwelche Einschränkungen. Das ist doch eine großartige Sache", sagt Essam.
Menschen zusammenführen nach traumatischen Jahren von Krieg und Terror. Ihnen Freude und Zuversicht zurückgeben. Essam Efeisen hat mit Fußball in Rakka erreicht, was viele für unmöglich hielten. Eine junge Generation schaut wieder nach vorne. Auch wenn ihre Zukunft völlig ungewiss ist.
Autor: Daniel Hechler / ARD Studio Kairo
Stand: 09.05.2021 20:35 Uhr
Kommentare