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Syrien: Rojava – Die Ungewisse Zukunft der Kurden

Syrien: Rojava – Die Ungewisse Zukunft der Kurden | Bild: SWR

Zehn Jahre nach dem Sieg über den IS ist die kurdische Kleinstadt Kobane wieder in Gefahr. Den Menschen bleibt kaum Zeit, das Jubiläum zu feiern. Auf dem Friedhof heben sie schon wieder neue Gräber aus. Denn für die Kurden ist der Krieg in Syrien nicht vorbei: Am Himmel über Kobane und über umliegende Dörfer kreisen täglich türkische Drohnen. Fast jeden Tag gibt es Meldungen von Bombardements und Angriffen auf Dörfer- und Kleinstädte in der kurdischen autonomen Selbstverwaltung. Protürkische Milizen der SNA (Syrische Nationale Armee) versuchen vom Westen aus vorzurücken. Gleichzeitig fliegt die Türkei Angriffe auf zivile Infrastruktur wie den Tishrin-Staudamm, wo derzeit die wichtigste Front verläuft. Nur wenige glauben daran, dass es hier im Nord-Osten Syriens eine friedliche Lösung gibt.

Die Kurdische Autonomie ist in Gefahr

In diesen Tagen sind die Menschen in Kobane voller Freude. Vor 10 Jahren haben sie ihre Stadt vom sogenannten IS befreit und damit den Niedergang des Kalifats eingeleitet. Newroz hat ihren kleinen Bruder 2013 im Kampf gegen Islamisten verloren. Sie gedenken ihrer Heldinnen und Helden. Seit ihrem Verlust halten die Frauen von Kobane noch enger zusammen. "Es hat sich schon im Krieg gezeigt, wie wichtig die Verbindung zwischen den Frauen von Kobane ist, als die Frauen damals gegen den IS kämpften", sagt Newroz Mahmud Ahmed. "Wir spüren das Leid der anderen, also sind wir miteinander verbunden."

Kurdinnen zeigen das Victory-Zeichen
Die Kurdinnen geben sich selbstbewußt

Ihre Stadt, noch immer von Zerstörung gezeichnet und heute wieder in Gefahr: Kobane liegt unmittelbar an der türkischen Grenze. Ihre Sorge: Dass Erdogan sich ihre Stadt einverleiben könnte. Am Himmel kreisen täglich türkische Flugzeuge und Drohnen. Die Kurden sind doppelt unter Druck: Denn gleichzeitig ist ihr Platz im neuen Syrien als Minderheit mit eigener Kampfeinheit, der SDF, ungewiss.

Die Türkei greift kurdische Dörfer an

Seit 2012 verwalten die syrischen Kurden den Nordosten des Landes in Eigenregie. Seit dem Sturz von Assad hat das kurdische Militärbündnis SDF bereits einen Teil des Territoriums an protürkische SNA-Milizen verloren. Sie sind verbündet mit der neuen Führung in Damaskus, der HTS. Gleichzeitig greift das türkische Militär aus der Luft das kurdische Autonomiegebiet an. Fast täglich im Visier: Dörfer und zivile Infrastruktur wie der Tishrin-Staudamm.

Dieses Video, verbreitet von protürkischen SNA-Milizen, soll einen ihrer vielen Angriffe zeigen: Zivilisten aus den umliegenden Dörfern halten täglich Mahnwachen. Mehr als 20 von ihnen sind bislang getötet, mehr als 200 schwer verletzt worden. Ihr Staudamm ist schwer beschädigt, darf nicht brechen. Rund eine halbe Million Menschen haben keinen Strom und kein Wasser. So auch Newroz und ihre Kinder. "Wir wurden in vergangene Zeiten zurückgeworfen, benutzen eine Öllampe, damit wir abends den Haushalt machen können. Wir füllen unsere Eimer aus einem Wassertank, um zu trinken."

Abbildung von Abdullah Öcalan auf Plakat
Abdullah Öcalan ist hier vielfach präsent  | Bild: SWR

Newroz und ihre Freundinnen haben sich freiwillig der SDF angeschlossen. Seit sich die Nato-Partner USA und Türkei 2019 auf eine entmilitarisierte Pufferzone geeinigt haben, sind keine SDF-Einheiten mehr in der Stadt stationiert. Deshalb patrouillieren sie jetzt selbst. "Jetzt trage ich die Waffe meines Bruders und ich werde ihn rächen und mein Land und mein Kobane vor allen Terroristen schützen." Die meisten wollen endlich Alltag – eine ganz normale Kleinstadt sein. Doch die Türkei sieht im neuen Syrien die Chance, einen langjährigen Feind endlich auszuschalten: die kurdische YPG-Miliz, den Kern der SDF. Für Ankara, ein Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. In vielen kurdischen Städten, sein Gesicht. Viele verehren PKK-Chef Öcalan noch immer. Wichtigster Partner der SDF: Die USA. Sie haben die Kurden in einer internationalen Allianz im Kampf gegen den IS unterstützt. Rund 2.000 Soldaten sind noch heute im Land. Doch die Anfang Januar errichtete Basis in Kobane: leer. Die SDF damals international für ihren Sieg über den IS gefeiert, überwacht heute noch Zehntausende IS-Anhänger und ihre Familien in Gefängnissen und Camps.

Kurden fordern ihre Rechte im neuen Syrien

Wir treffen die kurdische Außenbeauftragte in Hasakeh, in der Hauptzentrale der Anti-IS-Koalition. Das Bündnis – ein Geist der Vergangenheit? Wie viel davon ist heute noch übrig? "Es ist wichtig, dass die internationale Koalition und ihre Unterstützung für die SDF nicht abnimmt oder gestoppt wird", sagt Ilham Ahmed. "Im Gegenteil: sie sollten die SDF noch mehr unterstützen. Denn die Angriffe der Türkei öffnen die Tür für die Wiedererstarkung des IS." Sie fordert von der neuen Führung in Damaskus Sicherheitsgarantien. In der neuen Verfassung Syriens müssten ihre Kultur, Sprache und Frauenrechte verankert werden.

Gewehr
Die Zukunft der kurdischen Kampfverbände ist ungewiss  | Bild: SWR

Für die kurdischen Verteidigungseinheiten und die SDF steht ihre Existenz auf dem Spiel. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses berichtet, bislang habe es nur ein Treffen mit der neuen Führung in Damaskus gegeben. Erst am Mittwoch hatte diese wieder betont, alle militärischen Gruppierungen aufzulösen und in eine neue syrische Armee zu integrieren. "Wir sind bereit", sagt Ismat Sheikh Hassan. "Aber bis jetzt werden wir als militärische Gruppierung betrachtet. Und so können wir nicht eintreten. Wir werden als SDF eintreten, nachdem eine neue Verfassung gemacht wurde, die uns berücksichtigt."

Am Abend strömen die Menschen in Kobane auf den Friedhof. Auch Newroz besucht ihren kleinen Bruder Bozan. Sie sagt: Mit seinem Tod, habe er ihnen ein neues Leben geschenkt. "Aber Ich sage ihm auch, ich hoffe, du wärst wie der Rest deiner Freunde gewesen, die jetzt verheiratet sind. Frauen und Kinder haben. Wir wollen, dass das Blutvergießen aufhört. Wir haben genug Blut vergossen. Und das Land von Kobane ist mit Blut getränkt, Zentimeter für Zentimeter." Allein in Kobane sind im Kampf gegen die Islamisten mehr als 2.000 Menschen gestorben. Als es dunkel ist, brennt für jedes Leben ein Licht. Die Kurden hoffen auf eine Einigung mit der neuen Führung in Damaskus, denn auch sie wünschen sich endlich Frieden. 

Autorin: Vera Rudolph

Stand: 02.02.2025 22:03 Uhr

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